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Reutlinger läuft einmal pro Monat zu Fuß zur Arbeit nach Tübingen

Ingo Rohlfs geht aus Überzeugung ziemlich weit. Wenn Politiker etwas gegen Klimakrise, Feinstaub, Lärm oder Zivilisationskrankheiten tun wollen, sollten sie ihm folgen, meint er - und zwar am besten zu Fuß.

Wenn Ingo Rohlfs von Reutlingen nach Tübingen zur Arbeit pendelt, kann das schon mal dreieinhalb Stunden dauern. Nicht weil er im Stau steckt, sondern weil er 18 Kilometer zu Fuß geht. Foto: Christoph Schmidt/dpa
Wenn Ingo Rohlfs von Reutlingen nach Tübingen zur Arbeit pendelt, kann das schon mal dreieinhalb Stunden dauern. Nicht weil er im Stau steckt, sondern weil er 18 Kilometer zu Fuß geht. Foto: Christoph Schmidt/dpa

REUTLINGEN. Wenn Ingo Rohlfs von Reutlingen nach Tübingen zur Arbeit pendelt, kann das schon mal dreieinhalb Stunden dauern. Nicht weil er im Stau steckt, sondern, weil er 18 Kilometer zu Fuß geht. »Der Urlaub beginnt an der Haustür«, sagt der 51-Jährige. Etwa einmal im Monat geht er zur Arbeit und nimmt nicht - wie sonst - das Fahrrad. Er wählt dabei nicht den kürzesten, sondern einen schönen Weg durch Streuobstwiesen und den Wald. Zurück fährt er dann in der Regel mit dem Zug, weil sonst keine Zeit zum Arbeiten bliebe. Zufußgehen ist für Rohlfs nicht nur Erholung. Für den Landessprecher des Fachverbands Fußverkehr (FUSS) und Leiter der Ortsgruppe Reutlingen ist es ein politisches Thema.

Das wird auf seinem Weg zur Arbeit deutlich. »Hier sollen in Zukunft die Busse fahren«, sagt er und zeigt auf eine umgebaute Straße in der Innenstadt. Dabei gingen Autofahrer, die auf ein anderes Verkehrsmittel umsteigen, eher zu Fuß, als dass sie den ÖPNV nutzten. Studien zeigten, dass dieser erst auf Rang drei käme - nach dem Fahrrad, sagt Rohlfs. Hier mache man es genau umgekehrt. »Man nimmt das, was von den Leuten freiwillig am wenigsten gewählt wird, und steckt da ganz viel Geld rein.«

Ein Stück weiter, in der Fußgängerzone zeigt Rohlfs auf die Pflastersteine. Die würden 400 Euro pro Quadratmeter kosten, meint er. »Man pumpt das alles in diese eine Straße und der Rest verfällt.« Dabei seien andere Pflastersteine nicht nur günstiger und weniger schmutzanfällig - auf ihnen liefe es sich auch besser.

»Zu Fuß gehen ist zu normal, als dass man dem einen Wert gibt«, sagte Rohlfs Anfang Juli bei einem Fachgespräch mit Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne). Angesichts von Klimakrise, Feinstaubbelastung und Platzmangel in den Innenstädten könnte sich daran etwas ändern. Der Verkehrsminister will, dass 30 Prozent aller Wege 2030 im Land zu Fuß zurückgelegt werden. 2017 lag der Anteil bei 21 Prozent.

Dabei sieht Rohlfs ein zentrales Problem: »Die Verwaltungen vor Ort sind überfordert.« Fußverkehr sei schwieriger zu planen, als eine Autostraße. Er empfiehlt dem Land die Einrichtung einer mobilen Expertengruppe zur Unterstützung der Kommunen. »Mobile Leg« heißt das Konzept, für das er Unterstützung in der Landeshauptstadt sucht.

»Er hat seinen eigenen Kopf und eigene Ideen, auf die ich selber nicht unbedingt kommen würde«, sagt FUSS-Geschäftsführer Stefan Lieb über Rohlfs. Er bringe immer interessante Aspekte ein. »Aber leider ist er beruflich eben auch stark eingebunden, so dass ihm die große Zeit fehlt.«

Rohlfs ist promovierter Chemiker. Seine Doktorarbeit hat er - passend für einen Fußgängeraktivisten - zu Abgassensoren geschrieben. Mittlerweile arbeitet er in der IT-Abteilung der Tübinger Universitätsbibliothek und gibt Seminare im Bereich Datenanalyse. Trotzdem findet er die Zeit, um bei Verkehrsbegehungen und Bürgerbeteiligungen mitzumachen und Vorträge zu halten. Das Interesse sei enorm gestiegen. Zuletzt habe ihn sogar der ADAC für ein Projekt angefragt. »Wir kommen gar nicht hinterher.«

Fragt man ihn nach dem Ursprung seines Engagements, kommt der gebürtige Lübecker auf hanseatische Sparsamkeit zu sprechen. Die hätten ihm seine Eltern mitgegeben. Zufußgehen sei ein Ausdruck davon. Rohlfs habe trotz vier Kindern kein Auto und sei in seinem Leben erst zweimal geflogen - dienstlich als die Bahn gestreikt hat. Seine Stromabrechnung präsentiert er nicht ohne Stolz: 425 Kilowattstunden pro Jahr für ihn und die zwei jüngsten Kinder, die zeitweise bei ihm wohnen. Laut Statistischem Bundesamt lag der Durchschnitt für einen Einpersonenhaushalt 2017 bei 1955 Kilowattstunden. Allerdings hat Rohlfs auch keinen Kühlschrank.

»Er ist ein Idealist in seinen Überzeugungen«, sagt Martin Dege, der wie Rohlfs in der Reutlinger Oststadt wohnt und dort auch arbeitet. Dege setzt sich dafür ein, dass die Interessen von Autofahrern bei der örtlichen Verkehrsplanung berücksichtigt werden. Trotz Rohlfs’ starker Überzeugungen höre dieser auch zu und reflektiere Dinge. »Ich schätze ihn sehr als Gesprächspartner«, sagt Dege.

Beim lokalen Kreisverband des Allgemeinen Deutsche Fahrrad-Clubs lobt man die Sachkunde von Rohlfs. »Er ist einer derjenigen, die sich mit am besten auskennen, was das Thema Fahrrad und Verkehrsrecht angeht«, sagt Gerhard Götz, Mitglied des Vorstands. In Diskussionen sei Rohlfs sehr engagiert, manchmal gar fundamentalistisch. Er könne sich dabei aber immer auf sein Wissen berufen. Nur Kompromisse fielen ihm manchmal schwer.

Stößt Rohlfs damit Menschen vor den Kopf, gerade im Autoland Baden-Württemberg? »Ich sag es mal so: Wenn ich um die Kurve komme, bin ich der lebendige Vorwurf. Da muss ich gar nichts machen.« Dazu reiche es, mit Kindern ohne Auto unterwegs zu sein. Er könne sich aber nicht daran erinnern, jemandem gegenüber dessen persönliches Verhalten angesprochen zu haben. Es gehe ihm auch weniger um die Einzelnen als um das System, das sie dazu bringt, Auto zu fahren.

Bis vor ein paar Jahren habe er nicht an eine Lösung des Klimaproblems geglaubt, sagt Rohlfs. Mittlerweile sei er optimistischer. Auch dank der Fridays-for-Future-Demonstrationen. »Vielleicht geht es ja doch.« Für ihn ist das Thema Verkehr aber nicht nur eine Frage des Klimas. Luftschadstoffe, Lärm, Zerstörung der Städte, Bewegungsmangel - all das könne man auf einmal angehen. Wie? Zu Fuß. (dpa/lsw)