REUTLINGEN. Ein weiteres beliebtes Umsonst-und-Draußen-Festival (U&D) in Südwestdeutschland ist Geschichte: das Reutlinger KuRT. Der Verein, der hinter dem meist dreitägigen Musik-Festival stand, löst sich auf. »Schweren Herzens müssen wir euch mitteilen, dass es KuRT bald nicht mehr geben wird«, ist unter der Rubrik »Aktuelles« auf der Homepage des Vereins zu lesen. Damit fallen vor allem auch die seit 2007 inmitten der Stadt bei freiem Eintritt veranstalteten Open-Air-Rock- und -HipHop-Festivals künftig weg.
Zeit, zurückzublicken auf eine Erfolgsgeschichte, die nun im zweifachen Wortsinn sang- und klanglos endet: Kultur für Reutlingen, kurz KuRT, war vor 17 Jahren ins Leben gerufen worden. Zweck des gemeinnützigen Vereins: Kultur aus einer jungen Perspektive zu fördern. »Gemeinsam mit allen, die mitmachen wollen,« sollte der Selbstbeschreibung nach alles in Bewegung gesetzt werden, um - noch recht schwammig oder ergebnisoffen - »in Reutlingen etwas entstehen zu lassen«. Dabei durfte sich jeder engagieren, »egal, ob alter Hase in der Kulturszene oder junger Interessierter«. Eine Plattform schaffen, um die Kultur in Reutlingen zu bereichern, so lautete das erklärte Ziel.

Dazu gehörte von Anfang an das zunächst auf dem Bruderhausgelände am ZOB gefeierte U&D-Festival. Schnell wurde das weit über Reutlingen und die Region hinaus bekannt. Kein Wunder: Schon 2009 waren Kilians und Klez-e zu Gast, später die Thrash-Metaller Emil Bulls, die Hardcore-Punker Kmpfsprt, OK Kid und Großstadtgeflüster, Laing, Antiheld, Heisskalt. Die Liste ließe sich fortsetzen. Dazu Rap-Stars wie Afrob, SDP, Eko Fresh, Teesy, FC Fitti, Megaloh. Mehrere hundert Bands bewarben sich um Auftritte. 2017 kamen dazu an drei Tagen insgesamt 20.000 Besucher aufs Bürgerpark-Gelände, 2018 sollten sie auf zugleich maximal 6.000 begrenzt werden.
»Mit seinen qualitativ sehr hochwertigen Programmen« habe sich das U&D einen Namen im ganzen Südwesten gemacht, resümiert der Verein. Das Open-Air-Festival sei »unentwegt gewachsen«, bis es zu einem der größten rein ehrenamtlich geschulterten U&Ds im Süden Deutschlands wurde. Die Aktiven haben es »zu einem Reutlinger Merkmal gemacht«.
Booker erfolgreicher nicht-kommerzieller Festivals haben die Musikszene stets genau im Blick. In Ermangelung eines Riesen-Budgets gilt es, die Künstler und Bands gerade dann zu verpflichten, wenn sie kurz davor stehen, Abräumer zu werden - und damit schlagartig zu teuer. Da die Aktiven bei KuRT überwiegend studierten oder noch zur Schule gingen, war man »sozusagen immer mitten im Geschehen«, erklärt der Verein, und wusste, »was gerade so abgeht«. Um zum Jahreswechsel die Verträge mit Bands fürs nächste Festival festzuzurren, müsse man einschätzen, »wer im Sommer berühmt werden könnte«, hatte einst Mark Wiegand vom Vorstand erläutert. Über solch ein »Händchen« durften sich die KuRT-ler viele Jahre lang freuen.
Doch waren die KuRT-Festivals nicht alles. Das Angebot des Kultur für Reutlingen-Teams, das sich sonntagabends im Haus der Jugend traf, umfasste noch andere Veranstaltungen für junge Menschen: Zeitweise mehr als 30 aktive Mitglieder konnten in den vergangenen 17 Jahren ihr Können der Öffentlichkeit vorstellen, Erfahrungen bei der Organisation von Veranstaltungen, in Bereichen wie Projektplanung, Sponsoring, Booking und PR sammeln und Kontakte zu anderen Kulturinstitutionen aufbauen. Sie lernten Verantwortung zu übernehmen und erfolgreich im Team zu arbeiten.
Neue Konzepte, neue Orte
Zweimal hat das Festival den Ort gewechselt: Spielte die Musik bis 2018 auf dem Bruderhausgelände und späteren Bürgerpark, rund ums historische Krankenhäusle direkt am Rand der Innenstadt, zog KuRT 2019 einmalig auf die größeren Bösmannsäcker - und kostete Eintritt. 2020 fiel es aufgrund der Corona-Pandemie aus, 2021 war es erstmals nur eintägig. Im Echaz-Hafen wurde mit Teststation und Masken, aber ohne Abstandsgebot gefeiert. Seither blieb das Open-Air-Gelände hinter dem franz.K als Festivalort bestehen. Und die Organisatoren kehrten zum bewährten Konzept, »umsonst und draußen«, zurück. Rapper Bayazz und andere HipHop-Künstler zogen 2022 am Festival-Samstag 2.300 Besucher an. Damit stieß der Echaz-Hafen an seine Kapazitätsgrenze. 2023 wurde dann abgespeckt: Am 15. Juli beschränkte sich KuRT wieder auf nur einen Tag. Doch erneut wurde stadtnah bei null Eintritt gerockt und gerappt, mit sechs Künstlern beziehungsweise Bands und 1.000 Besuchern.
Allein im Sommer 2017 erhielt diese Erfolgsgeschichte einen Knick: Während mehr als 3.500 Musikfans am 17. Juli im Bürgerpark friedlich Eko Freshs Auftritt feierten, geschah mitten unter ihnen eine Gewalttat. Ein 17-jähriger Festivalbesucher wurde gegen 23 Uhr durch einen Messerstich in den Bauch schwer verletzt und musste notoperiert werden. Kurz davor war ein 14-Jähriger an der Schulter verletzt worden. Wegen schwerer Körperverletzung in zwei Fällen wurde ein gutes halbes Jahr später ein 21-Jähriger zu knapp vier Jahren Gefängnis verurteilt. Das Amtsgericht wollte durch die harte Strafe Signale senden - an die Besucher, damit die auch künftig ohne Angst aufs KuRT-Festival gehen können. Und an die Veranstalter: Damit die sich in Zukunft noch trauen, solch ein Event auf die Beine zu stellen.
Zu den Gründen weiterzumachen, zählten für das Team auch regelmäßige Umfragen der Stadt: Auf die Frage, was den Jugendlichen in Reutlingen wichtig ist, wurde jedes Mal weit oben KuRT genannt. Über mangelnde Unterstützung konnten sich die Organisatoren nicht beklagen. Das Amt für Schule, Jugend und Sport war Mitveranstalter, der Jugendgemeinderat Unterstützer. Und bezüglich der Genehmigungen gaben »die Ämter immer ihr Bestes«, sagte Ida Wied noch vor ein paar Jahren. »Die Stadt steht hinter uns und weiß, was sie an uns hat.«

Und nun soll alles aus sein? Ganz ohne Vorwarnung kommt das KuRT-Ende nicht: Schon 2022 hatte das Orga-Team um Wied, damals mit IKG-Vertrauenslehrer Sebastian Eil sowie Fabian Leuthe an der Spitze, über massiven Aktiven-Schwund geklagt. Statt der nötigen 20 bis 25 Mitglieder schulterten die Hauptarbeit des erneut dreitägigen Festivals bei der 15. Auflage im Juli 2022 nur acht Leute. 2023 schrumpfte das Open Air erneut auf einen Festivaltag. Doch trotz der vielen Arbeit und großen Verantwortung, die sich auf immer weniger Schultern verteile, erklärte Wied dem GEA gegenüber, sie freue sich schon auf die kommenden Festivals. Zuletzt waren neben ihr Janick Hummel und Jasmin Leuthe im Vorstand. Auf der KuRT-Website erklären sie: »Die letzten Jahre wurden zu einem Spießrutenlauf, den wir so leider nicht mehr tragen können, aus diesem Grund haben wir uns zu diesem drastischen Schritt entschieden.« Ein weitergehendes Statement war bis Redaktionsschluss leider nicht zu erhalten. Nur so viel noch: »Wir danken euch für eure Treue und die unvergesslichsten Momente!« (GEA)
Was ist ein U&D und wo gibt es das noch?
Die Umsonst & Draußen-Festivalbewegung entstand in den 1970er Jahren. Veranstaltet wurden die ersten U&Ds von kreativen Menschen, um zu beweisen, dass man kulturelle Großveranstaltungen ohne Kommerz, dafür mit 100 Prozent ehrenamtlicher Selbstorganisation stemmen kann. Eingebunden waren viele fortschrittliche Gruppierungen wie Schwulen- und Lesben-, Friedens- und Umwelt- sowie Anti-AKW-Bewegung, autonome Jugendzentren oder Rock gegen Rechts. Fast fünf Jahrzehnte später bilden die wenigen Verbliebenen wie hierzulande etwa das 38. U&D in Mössingen (26.-27. Juli) unter anderem mit Kytes, The Dangerous Summer sowie Moltke & Mörike und das 43. Umsonst & Draußen Stuttgart (2.-4. August) unter anderem mit Seized Up, DieVagari und Nordir sowie U&D Zollernalb in Bisingen (6.-7. September) mit Rock und Metal noch immer eine Alternative zu kommerziellen Festivals.
Das einst größte U&D in Baden-Württemberg, "Das Fest" in Karlsruhe, stellte schon vor einigen Jahren auf Tickets um, und da deren Organisation und Kontrolle Geld kostet, sind die nun nicht mehr kostenlos - auch wenn die Eintrittspreise vergleichsweise gering blieben. Dafür ist das Fest von 18. bis 21. Juli 2024 bis auf den Sonntag mit Wolfmother und LEA längst ausverkauft.
Noch etwas älter, größer und schöner als das KuRT ist bis heute das Obstwiesenfestival (OWF) bei Dornstadt, nördlich von Ulm. Zwischen 15. und 17. August treten dort zur 30. Auflage etwa Olli Schulz, König Boris, The Slow Show und Django 3000 auf. (dia)