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Reutlinger Künstler: Mit Kreativität und Mut gegen die Drogensucht

Schaufenster in der oberen Metzgerstraße in Reutlingen zeigen zurzeit Bilder und Objekte. Deren 64-jähriger Schöpfer erzählt, wie ihm Kreativität hilft, mit Depressionen und Sucht umzugehen.

Mal in Farbe, mal schwarz-weiß: Bilder des heroinabhängigen Mannes, der sich Michael Bambo nennt, sind wie ein Tagebuch.
Mal in Farbe, mal schwarz-weiß: Bilder des heroinabhängigen Mannes, der sich Michael Bambo nennt, sind wie ein Tagebuch. Foto: Frank Pieth
Mal in Farbe, mal schwarz-weiß: Bilder des heroinabhängigen Mannes, der sich Michael Bambo nennt, sind wie ein Tagebuch.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN. In zwei Schaufenstern der Metzgerstraße 67 sind jüngst gemalte Bilder, Tonfiguren und ein handgefertigtes Schachspiel aus Speckstein aufgetaucht. Dem Mann hinter dieser Ausstellung hilft die Kreativität, mit Depressionen und Folgen einer langjährigen Heroinabhängigkeit umzugehen. Er stellt gleich klar: »Ein Künstler bin ich nicht.« Dafür fehle ihm noch »der gewisse Effekt«, findet der grauhaarige Mann mit dem kleinen Zöpfchen im schulterlangen Haar. Dass er seinen Geburtsnamen abgelegt hat und sich stattdessen Michael Bambo nennt, sei deshalb kein Künstler-, sondern eher ein Kosename.

Dass der Reutlinger malt – mit Kreide, Gouache oder Aquarellfarbe auf Leinwand, Pappe und Papier –, das zeigt Michael Bambo jetzt erstmals öffentlich. Auch wenn ihm das, was dabei herauskommt, nicht immer gefällt. Manches seien eher Übungsstücke. Für ein »Aquarellgesicht« etwa, eine seiner älteren Arbeiten, hatte er zunächst eine andere Idee. »Ich wollte das liebevoller machen.« Er ärgerte sich und wollte das Bild wegschmeißen. Heute sagt er: »Jetzt ist es halt so.« Als Signatur verwendet der 64-Jährige nach wie vor »MH«, die Initialen seines Geburtsnamens. Erst seit kurzem signiert er seine Werke - wenn er dran denkt.

Die Konzentrationsschwierigkeiten, dass er sich im Gespräch manchmal verzettelt, fahrig wirkt und mit der Einhaltung von Terminen bisweilen Probleme hat, all das hängt mit seiner Drogenabhängigkeit zusammen. »Es ist selten, dass Menschen, die Heroin konsumieren, so alt werden wie Michael«, sagt Matthias Günzler von der Reutlinger Jugend- und Drogenberatung des Baden-Württembergischen Landesverbands für Prävention und Rehabilitation (BWLV). Niemand werde als Junkie geboren, gibt er zu bedenken, da stecke immer eine Geschichte dahinter. Dass Bambo nun mit Bildern von seinem Lebensweg erzählt, findet er gut. Das erfordert Mut.

Nicht alle Bilder, die er malt, gefallen Michael Bambo. Aber es tue ihm gut, so Verdrängtes zurückzuholen. Wie bei diesem "Aquar
Nicht alle Bilder, die er malt, gefallen Michael Bambo. Aber es tue ihm gut, so Verdrängtes zurückzuholen. Wie bei diesem »Aquarellgesicht mit lebergeschädigten Augen«. Foto: Frank Pieth
Nicht alle Bilder, die er malt, gefallen Michael Bambo. Aber es tue ihm gut, so Verdrängtes zurückzuholen. Wie bei diesem »Aquarellgesicht mit lebergeschädigten Augen«.
Foto: Frank Pieth

Am Anfang seiner Biografie steht eine 16-Jährige, das »schwarze Schaf einer Beamtenfamilie«, die ihr erstes Kind bekommt. »Das bin also ich«, sagt Michael mit einem Lächeln, das noch unentschlossen scheint, ob es ironisch oder bitter werden soll. Der gebürtige Pforzheimer erinnert sich, wie er mit fünf seinen betrunkenen Stiefvater aus der Kneipe nach Hause bringt. Mit neun will der Bub lieber in ein Heim. Bis zum 12. Lebensjahr lebt er in einer katholischen Einrichtung in Bayern, später in einer weltlichen. Glücklich scheinen allein die Zeiten, die er mit den Groß- und Urgroßeltern verbringen darf. Selbst beim Sport und in der Lehre bleibt er als Heimkind Außenseiter. »Mein Gehirn speichert mehr die guten Sachen«, meint Michael. Doch was macht sein Unterbewusstsein?

Abwärtsspirale dreht sich weiter

Mit 18, Lehre abgebrochen und arbeitslos, imponieren ihm ein paar Leute, die Joints rauchten. Auch er probiert Haschisch, später LSD. »Das war eigentlich meine Droge. Nachts unterwegs, tagsüber schlafen«, erzählt er. Wobei Streetworker Günzler und seine Kollegin Nathalie Dennenmoser vom Team der Jugend- und Drogenberatung des BWLV betonen: »Einstiegsdrogen sind zu 100 Prozent Nikotin und Alkohol. Cannabis nicht immer.« Eine Verhaftung mit nachfolgender Therapie betrachtet Bambo rückblickend als Segen. Mit 23 zieht er nach Heilbronn, konzentriert sich auf seine Selbstständigkeit, heiratet und gründet eine Familie.

Nach diversen Enttäuschungen – über Untreue, Verrat, Scheidung, Trennung von den Kindern –dreht sich die Abwärtsspirale weiter. Als 30-Jähriger wacht er erstmals mit einer Nadel im Arm auf. Der 12. Dezember ist ein Datum, das er nicht vergisst. Von da an hat ihn neben seiner Spiel- auch die Drogensucht im Griff. Auch wenn er danach immer mal wieder ein Jahr clean war: »Wenn du einmal Heroin gespritzt hast, kommst du nimmer raus.« Jahrzehnte der Heroin- und Amphetaminabhängigkeit folgen. Abstürze, Entgiftungen, Therapien. Seit Anfang der 1990er-Jahre wird er substituiert. Er wolle ja arbeiten. Aufgegeben hat er sich nie. Bis heute erhält er unter ärztlicher Aufsicht Ersatzstoffe wie Subutex oder Methadon, um Entzugserscheinungen und Risiken illegal erworbener Substanzen zu vermeiden – ohne die berauschende Wirkung der Opiate. Neben Dennenmoser und Günzler steht ihm als Assistenz im eigenen Wohn- und Sozialraum des BWLV ein Betreuer zur Seite.

Nach der Sucht- und Depressionsdiagnose ist in der Kunst- und Ergotherapie bei stationären Aufenthalten in Zwiefalten unter ande
Nach der Sucht- und Depressionsdiagnose ist in der Kunst- und Ergotherapie bei stationären Aufenthalten in Zwiefalten unter anderem ein Schachspiel aus Speckstein entstanden. Foto: Frank Pieth
Nach der Sucht- und Depressionsdiagnose ist in der Kunst- und Ergotherapie bei stationären Aufenthalten in Zwiefalten unter anderem ein Schachspiel aus Speckstein entstanden.
Foto: Frank Pieth

»Die Drogenszene ist wie ein starker Magnet«, sagt der 64-Jährige. Er gehe, so gut er kann, illegalen Substanzen aus dem Weg. Und Menschen, die ihm diese verkaufen wollen. »Ich versuch', anständig zu sein.« Durch seine Sucht schade er nur sich selber, niemand anderem. Er stutzt. »Doch, meiner Freundin.« Sie gebe ihm wie die Drogenberater Rückenwind. Das künstlerische Schaffen lenkt von Problemen wie der Energielosigkeit und der kaputten Hüfte ab, erdet ihn. Durch die Schaufenster-Ausstellung am Kontaktcafé des BWLV fühlt er sich nun »a bissle verantwortlich«. Zu verlieren habe er nichts, sagt Michael Bambo. Nur etwas weiterzugeben. »Vielleicht verstehen dadurch manche, dass wir Drogenabhängigen keine Monster sind.«

Selbstkritik und Mut

Dem Mut, seine in der Kunst- und Ergotherapie diverser »Entgiftungen« entstandenen Bilder und Objekte zu zeigen, steht die Selbstkritik entgegen. »Selbst als Autodidakt würde ich mich eher auf Stufe zehn einordnen«, sagt er. Nathalie Dennenmoser protestiert: »Du machst dich immer klein. In meinem Büro hängen doch auch Bilder von dir.« Dafür erhielt sie schon viel positives Feedback. Wie Streetworker Günzler ermutigte sie deshalb ihren Klienten, die Ausstellung zu wagen. Die GWG als Eigentümerin des Hauses, in dem das Kontaktcafé untergebracht ist, stellte die Schaufenster zur Verfügung. Die zeigen nun eine wild wirkende Auswahl an Gesichtern und Landschaften, alleinerziehenden Schweinen und Schildkröten, dazu eine Drachendose, filigrane Schachfiguren und eine aus Holz geschnitzte Miniaturkommode. Ob das Kunst ist, entscheidet jeder Betrachter für sich.

Kontaktcafé »Panto« des BWLV

Das von der Stadt finanzierte Kontaktcafé »Panto« in der Metzgerstraße 67 in Reutlingen bietet für chronisch Abhängige ein offenes Café mit Frühstücksangebot, Spritzenvergabe, Informationen, Krisenintervention, Unterhaltung und Freizeitmöglichkeiten: montags, 14 bis 17 Uhr, und donnerstags, 9 bis 12 Uhr, Telefon 07121 6958162. Die Jugend- und Drogenberatung wird von Landkreis, Stadt und Land mischfinanziert. Träger ist der Baden-Württembergische Landesverband für Rehabilitation und Prävention (BWLV).
Die Drogenberater und Streetworker Matthias Günzler und Nathalie Dennenmoser sind auch vor und nach den Öffnungszeiten zu erreichen (Tel. 0170 5522372, 0176 39239010). Dazu gibt es Beratungsgespräche nach Vereinbarung und psychosoziale Substitutionsbegleitung. Die Jugend- und Drogenberatung des BWLV findet sich in der Albstraße 70/1, Eingang Albstraße 70. Anfang 2024 musste eine Stelle im Team gestrichen werden, da das Land seit 1999 seine Zuschüsse nicht erhöht hat. Deshalb ist die Jugend- und Drogenberatung Reutlingen des BWLV froh über Spenden. (dia)

Wichtiger ist für den Mann im langärmeligen Kapuzenpulli: Auch wenn die »lebergeschädigten Augen« in seinem Aquarell-Porträt keine Absicht waren, passierte da etwas, »das ich erst im Nachhinein zu verstehen versuchen kann«. Seine Bilder sind wie ein Tagebuch. Manches würde er nie jemandem zeigen. Aber wenn er »mal wieder in 'ner Scheiß-Situation hängt«, tut es ganz gut, manches zurückzuholen. Malen und anderweitig Kreativsein hilft ihm dabei. Selbst wenn »erstmal ganz böse Bilder« entstehen, später kommen die Farben. Ein Werk zu verkaufen, wäre eine Bestätigung. Auch über E-Mail-Rückmeldungen freut er sich. Immerhin, beschwert habe sich noch keiner, sagt Michael Bambo. Und: »Toll, dass das Schaufenster jetzt nicht mehr leersteht.« (GEA)
michaelbambo1234567@gmail.com
https://www.bw-lv.de/beratung/beratungsstellen/jugend-und-drogenberatung-reutlingen/