REUTLINGEN. Den anstrengendsten Part hat Regine Vohrer am Mittwochabend schon hinter sich: Die meiste Arbeit hatte die Organisatorin des Reutlinger Herbsts bereits vor der Eröffnung am 21. August. Da gilt es zum Beispiel offene Fragen mit der Marienkirchen-Gemeinde zu klären. Denn die Lauben des seit 1986 – bis auf die Corona-Zeit – jährlich von einer Arbeitsgemeinschaft regionaler Gastronomen veranstalteten Weindorfs haben das vor 777 Jahren in knapp einem Jahrhundert erbaute Wahrzeichen der Stadt im Klammergriff. Rund um das 1988 zum Nationalen Kulturdenkmal ernannte Bauwerk gibt es nun drei Wochen lang insgesamt 3.500 Sitzplätze, mit provisorischen Büros, Lager und Küchen. Die reichen etwa hinter dem Zelt der Wein-Agentur Julius Vohrer direkt ans Mauerwerk heran. Die Witwe des Weindorf-Begründers führt in diese Pop-up-Katakomben und zeigt die Planen, die dort angebracht wurden, um den Sandstein nicht zu beschädigen.
Beim Aufbau ist die Weindorf-Chefin immer da. Seit sie diese Aufgabe »im Katastrophenjahr 2013« zusätzlich zu Vohrers Weindorf-Gastronomie von ihrem mit 59 Jahren verstorbenen Mann übernommen hat. »Mich hat es da so hingespült«, sinniert die brünette Immobilienfachfrau und Kommunalpolitikerin bei einer Zigarette – das einzige Laster, das sie noch beibehält. »Die anderen Wirte sagten, es wäre gut, wenn du das machen würdest«, erzählt sie am eher ruhigen Mittwochabend vor »Vohrers Küferhäusle« und dem »Weinbrunnen«, wo sich neben Sabine Meinecke auch die eineiigen Zwillinge Tom und Kevin um die Besucher kümmern – ganz schön gemein, meint der geneigte Gast da doch schon nach dem ersten Achtel von Regine Vohrers aktuellem Lieblingswein, einem Hohenhaslacher Lemberger Rosé, Jahrgang 2023, bisweilen doppelt zu sehen.
Keinesfalls möchte die 67-Jährige in die Fußstapfen der einstigen Weindorf-Bürgermeisterin Margret Grimm treten. »Om Goddes Willa!«, entfährt es ihr beim Gedanken daran. Reines Repräsentieren ist nicht ihr Ding, das sei nicht mehr zeitgemäß. In 37 Jahren habe sich das Fest »zweimal um 180 Grad umgedreht«. Außerdem organisiert sie lieber. »Ehr’ und Würden hab ich genug.« Viele Leute kennen die einzige Frau in der Wirte-AG, sprechen sie im Lauf des Abends an, winken ihr zu. Wie viele ihrer Gäste ist sie ein »Altstadtkind«.
Als »Ur-Reutlingerin« sieht sich auch Weindorf-Fan Susanne Schüle, mit der Vohrer über eine Tante sogar verwandt ist. Zweimal war sie in der ersten Woche dieses Jahr schon beim »Reutlinger Herbst«. Am Donnerstag freut sie sich, einen Nachbarn aus der Kindheit, der jedes Jahr aus Hamburg für eine Woche in die alte Heimat zurückkehrt und einst das Fassrollen gewonnen hat, wiederzusehen: Dieter Künstner. »Das ist das Weindorf der Leute«, sagt Regine Vohrer. Promis interessieren sie weniger. Doch sie genießt es, dass sie in den 14 Öffnungstagen nach der Eröffnung – mit einem Lied, das sie selbst umgedichtet hat, – abends Muße hat, sich zu Freunden und Bekannten zu stellen.
Im Hintergrund ist sie zudem noch bis 7. September stolze »Chefin zur Bestückung des Toilettenwagens«, fährt nachmittags zum Supermarkt, um rechtzeitig vor dem Ansturm ab 17 Uhr Samira Ousul (60) und Doris Thumm (73) Berge von Klopapierrollen auszuhändigen. Die Schwestern aus Stuttgart, die ursprünglich aus Ghana stammen, sorgen schon seit gut 20 Jahren dafür, dass bei diesem Fest auch der Klogang eine saubere Sache ist – hie und da wird der Weindorf-Besucher oben und unten am Weibermarkt mit einem breiten kehligen Lachen und fröhlichen »hallo Schatzi« begrüßt.
»Stausee«- Stationskellner Kubilay Erseymen (24) findet, die Weindorf-Wochen sind zwar anstrengend. Aber eine willkommene Abwechslung. »Die Atmosphäre ist anders, es ist halt ein Fest!«, fügt Hotelfachmann Klinton Borri (30) vom Metzinger »Schwanen« hinzu, der um diese Zeit rund um die Ermstallaube Tische und Bänke aufklappt, Polster, Besteckkörbchen und Deko verteilt.
Suchte jemand etwas auszusetzen, böte sich der Name an: »Reutlinger Herbst«. Treibt es dem Freund langer Tage beim Erspähen der ersten Plakate im August nicht die Tränen in die Augen? Als erinnerte ihn einer dran, dass in 116 Tagen schon Heiligabend ist? Keineswegs. Es war von Anfang an eher als heimische Verlängerung des Italien-Urlaubs vor dem Schulbeginn gedacht, erklärt Dieter Künstner. Und es gibt ja die »Sommerlaube«: Deren Name bezieht sich nicht auf die Jahreszeit, sondern den Inhaber des 1930 gegründeten Cafés in der Wilhelmstraße 100. Andreas Sommer hat das Weinfest mit seinem besten Freund Julius Vohrer einst aus der Taufe gehoben.
Die mit lila und weißen Tulpen geschmückte Laube am Haupteingang der Marienkirche ist als einzige wie damals aus Holz – und heute unter den sieben Pop-up-Restaurationen die kleinste. Nachmittags stehen da schon »Reserviert«-Schilder auf den Tischen. Susanne und Bruno Schüle treffen sich dort jedes Jahr samstags mit ihren Vettern und Basen. Auch morgen kommen sie mit der größeren Gruppe wieder. Plätze sind schon reserviert. »Das empfiehlt sich«, sagt Wirts-Tochter Anja Sommer. Möglich sei dies erstmals auch online. »Das läuft sehr gut.«

Neben dem normalen Geschäft fürs Weindorf eine zweite Karte anzubieten, und zwar schon ab 11 Uhr, ist der 34-Jährigen zufolge »schon viel Arbeit«. Sommers stellen dazu zusätzliches Personal ein. Alle Angestellten tragen dann drei Wochen Dirndl oder Trachtenlook. Doch der Aufwand werde von den Gästen geschätzt. Alles sei regional und handgemacht, werde frisch gekocht. »Bis hin zur Kruste an der Haxe«. Manche planten ihren Urlaub um dieses »fröhliche, friedliche, rundum schöne Fest« herum, sagt die Fachfrau für Marketing und Strategie.
Auch Regine Vohrer setzt mit Produkten vom »Top-Metzger Failenschmid« auf Regionales. So groß die Vielfalt – junge Küche im »Joli«, Internationales in der »Ermstallaube«, Schwerpunkt Fisch im »Rössle« und Wild in der »Alteburg« –, so hoch ist rund um die Marienkirche die Qualität. Der Aufbau einer Laube koste an die 20.000 Euro, dazu komme das Wetter-Risiko, und dass man bei freiem Eintritt jeden Abend Live-Musik biete. Zur Untermalung erklingt an einer Ecke ein jazziger Michael Jackson-Hit, »Country Roads« unplugged mit Gitarren und etwas weiter weg der Schlager »Sierra Madre«. Für Vohrer ist da klar: »Billig können wir nicht sein. Dafür haben wir auch keine Chaoten.« Trotzdem gibt es Gerichte für weniger als 10 Euro, auch »to go«. Und ein Glas Wein koste auch anderswo 6,80 Euro.
»Gott sei Dank hatten wir bislang nur schönes Wetter«, sagt Magdalena Gumpper (25) vom Honauer Forellenhof »Rössle« an der Metzgerstraße. Um die Wirts-Tochter mit der Aufschrift »Im Herzen ein Weinkind« auf dem T-Shirt genießen am frühen Nachmittag Senioren und Familien Lachsforellenfilet oder Ohnastetter Maishähnchen – beides für unter 15 Euro.
Deshalb ist auch Klaus Dieter Scholz als langjähriger Marienkirchen-Gemeinderat immer wieder gern auf dem Weindorf. Am Donnerstagabend bietet der 72-Jährige Regine Vohrer noch eine neue Erfahrung: Er nimmt sie bei Sonnenuntergang hoch auf den Turm. So sieht sie das seit vergangenem Jahr als »Cabrio« mit auffaltbarem Dach erweiterte »Küferzelt« erstmals aus der Perspektive der Wasserspeier. Und beobachtet, wie der Sanka von der Gartenstraße auf den Weibermarkt abbiegt. Zweimal innerhalb kurzer Zeit rückten die Notfall-Sanitäter am frühen Abend an, erklärt »Rössle«-Wirt Gerhard Gumpper später. Bei schwülen 30 Grad dürfte die Hitze für Schwächeanfälle gesorgt haben.
Zum heiter-lockeren Austausch unter Kollegen gesellen sich bald auch Carlo Vohrer und Josef Klose vom Glemser »Stausee«, der ebenfalls seit Beginn auf dem Innenstadt-Festgelände für täglich bis zu 6.000 Besucher zum Reutlinger Herbst gehört. »Das Weindorf lebt davon, dass die Wirte hier Zeit haben«, sagt Regine Vohrer. (GEA)