REUTLINGEN. Eine Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) im Frühjahr 2024 belegte das, was Eltern schon lange geahnt und allmonatlich auf ihren Kontoauszügen gesehen haben: Reutlingen landet auf dem Spitzenplatz, wenn es um die Höhe des Besuchsgeldes für Kindertageseinrichtungen geht. Die Erkenntnis daraus folgte schnell: »Wir sind zu teuer. Das ist nicht familienfreundlich«, sagte Verwaltungsbürgermeister Robert Hahn kurz darauf im Gespräch mit dem GEA. Passiert ist seitdem aber nicht viel.
Auch den Eltern hilft diese Erkenntnis in ihrer aktuellen Situation nichts, denn die Lage sei nach wie vor »miserabel und teuer«. So fassen es einige Eltern zusammen, die jetzt eine Initiative gegründet haben, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen und die im Gespräch mit dem GEA berichten, wie es ihnen geht. »Hier läuft was schief«, sagt beispielsweise Daniel Dietrich. Zwei seiner drei Kinder besuchen den Kindergarten und das nach dem neuen Gebührenmodell, das der Gemeinderat 2023 eingeführt hat und das für die oberen Einkommen zu einer noch höheren Belastung führt. »Das war eine böse Überraschung«, sagt der Familienvater. Denn nach dieser Gebührenordnung greift die Stadt den so genannten »Besserverdienern« noch tiefer in die Tasche: Bis zu 614 Euro kostet ein Platz und das ab einem Nettoeinkommen von mehr als 70.000 Euro.
"Es ist der falsche Ansatz,
alles auf die Familien abzuwälzen"
Die betroffenen Eltern haben das mal zusammengerechnet: Sie haben einen Zeitraum von fünf Jahren zugrunde gelegt, in dem die Kinder eine Einrichtung besuchen. Geht man von einem Jahresnettoeinkommen von mehr als 70.000 Euro aus, kostet ein Platz, je nach Betreuungszeit, in Reutlingen zwischen 27.600 und 36.800 Euro für die fünf Jahre. Im Vergleich: in Metzingen sind es zwischen 19.160 und 29.900 Euro, in Tübingen zwischen 18.600 und 24.900 Euro und Eltern in Stuttgart müssen nur zwischen 7.700 und 9.700 Euro bezahlen.
Auch Ines Hörer wird ordentlich zur Kasse gebeten und das, obwohl sie ihr größeres Kind schon vor langem im Kindergarten angemeldet hat. Die Krux an der Sache: Sie mussten rund ein Jahr auf einen Platz warten und als es dann endlich so weit war, galt die neue Gebührenordnung. »Das sind immense Mehrkosten, die uns dadurch entstehen«, betont sie, »und das obwohl es nicht unsere Schuld war, dass wir so lange keinen Platz hatten.« Die Schlussfolgerung der Reutlinger Eltern: »Es ist der falsche Ansatz, alles auf die Familien abzuwälzen«, sagt Hörer. Diese seien ohnehin durch die Inflation und steigende Lebenshaltungskosten über Gebühr belastet. Darum machen sie nun mobil und fordern die Politik zum Handeln auf.
Das System der Einkommensstaffelung wolle man nicht abschaffen, betont Benjamin Mück, Vater und Mitglied im Gerk-Vorstand, dem Reutlinger Gesamt-Elternbeirat. Aber für viele scheint die Grenze jetzt endgültig überschritten zu sein. Bereits die mittleren Einkommen leiden unter dem hohen Besuchsgeld, die unteren Stufen erhalten meist staatliche Unterstützung, weshalb sie weniger betroffen sind.
»Andere Kommunen haben auch kein Geld und mit einer Haushaltssperre zu kämpfen«
Für die Eltern gibt es nur eine Lösung: Die Gebühren müssen runter und zwar schnell. Erklärungen von Verwaltung und Gemeinderat, dies sei aufgrund der Haushaltslage nicht möglich, lassen sie nicht gelten. »Andere Kommunen haben auch kein Geld und mit einer Haushaltssperre zu kämpfen«, sagt Daniel Dietrich.
Ein weiterer Kritikpunkt, der gleichzeitig gerne als Erklärungsansatz für die hohen Gebühren herangezogen wird, ist die Besonderheit in Reutlingen, dass jedes Kind, egal ob über oder unter drei, gleich viel kostet. Damit wolle die Stadt junge Familien unterstützen. »Dabei haben sie die Plätze gar nicht«, erwidern die Eltern. Pro Jahrgang seien es etwa 800 Kinder, die nicht zum Zug kommen, haben sie ausgerechnet.
Bitter für die Eltern ist, dass sie meist keine Alternativen haben. »Wir sind auf Kinderbetreuung angewiesen, weil wir arbeiten müssen«, sagt Thomas Zebrowski. Er und seine Frau sind einst der Arbeit wegen nach Reutlingen gezogen, und haben dann in der Achalmstadt eine Familie gegründet. Ihre Kinder sind in einem Kindergarten in privater Trägerschaft, was die Kosten noch mehr nach oben treibt, da es keinen Geschwister-Rabatt wie in den städtischen Einrichtungen gibt. Auch Ines Hörer bestätigt, dass berufstätige Eltern von den Kindertagesstätten abhängig seien und sie sich allein gelassen fühlen.
»Wir würden heute nicht mehr nach Reutlingen ziehen«
Auf lange Sicht könnte dies auch ein Standortnachteil für die Stadt werden, wenn sich unter jungen Familien herumspricht, wie teuer die Kinderbetreuung hier ist. Einst hätten ihn die hohen Mieten in Stuttgart abgeschreckt, blickt Dietrich zurück. Schaut er sich heute die Abrechnung der Kita an, entpuppe sich dies als Milchmädchen-Rechnung. »Wir würden heute nicht mehr nach Reutlingen ziehen«, sagt er. Sorge um den Ruf haben nun auch einige Gemeinderäte, weshalb sich Grüne, SPD, Linke/Partei, FWV und FDP für einen interfraktionellen Antrag zusammengetan haben. Auch CDU und WiR haben Anträge auf Entgeltreduzierung eingereicht.
Ein Vorschlag, der in die richtige Richtung geht, allerdings den Eltern noch lange nicht weit genug. Über den Verzicht auf weitere Anhebungen können sie nur den Kopf schütteln, denn das Ausgangsniveau ist ihnen bereits zu hoch. Daher fordern sie einen Vergleich und eine Anpassung an die benachbarten Kommunen Metzingen und Tübingen, zudem das Ende der unterschiedlichen Gebührenmodelle und eine Gleichstellung der privaten Träger.
»Wir sind auf Kinderbetreuung angewiesen, weil wir arbeiten müssen«
Auch an einer weiteren Ungerechtigkeit sind der Gerk und der Kreis Reutlingen derzeit dran. Dabei geht es um die Gebührensätze für Tagesmütter, die ab dem dritten Lebensjahr immens nach oben gehen, obwohl die Tagesmutter nicht mehr verdient. Schnell steigen die Beträge im dreistelligen Bereich an, teils sind sie sogar höher als das Besuchsgeld im Kindergarten. Schnell entsteht da der Verdacht, dass der Kreis die Notlage ausnutzt, wenn die Kinder keinen Platz im Kindergarten finden. Das sei keineswegs so, schreibt die Pressesprecherin des Landkreises, Anna Ioannidis. »Die Tabellenbeträge für Kinder unter drei Jahren und für Kinder über drei Jahren sind unterschiedlich. Grund hierfür ist, dass sich das Land mit Zuschüssen nach dem Finanzausgleichsgesetz des Landes an den Kostenbeiträgen für Kinder unter drei Jahren beteiligt. Ab dem dritten Geburtstag entfallen diese. Damit kommt es vor allem bei höheren Einkommen und umfangreicheren Betreuungszeiten zu einer deutlichen Erhöhung.« Aufgrund fehlender Kindergartenplätze bleiben derzeit mehr Kinder länger bei ihrer Tagesmutter - und das zu teils immensen Mehrkosten. Der Landkreis stehe deshalb mit den Kommunen im Austausch, so Ioannidis.
Wie geht es nun weiter? Es sei ein großer Fehler gemacht worden bei der Festlegung des Besuchsgeldes, sagt Dietrich. »Den gilt es, jetzt zu korrigieren«. Verweise nach Berlin oder Stuttgart wollen die Eltern nicht gelten lassen, das müsse die Stadt selber stemmen. Sie werden auf jeden Fall am Ball bleiben: »Wir werden uns weiter äußern«, sagt Ines Hörer, der Druck auf die Politik müsse steigen - und sie hoffen, dass sich ihnen weitere Eltern anschließen. (GEA)