REUTLINGEN. Zwei Tage bis zur Wahl, und noch ist rätselhaft, für wen sich die 5 615 Wähler entscheiden, die Grünen-Kandidatin Cindy Holmberg gewählt haben. Nachdem Holmberg ihre Kandidatur zurückzog, suchen ihre Parteifreunde immer noch nach Schnittmengen mit der Konkurrenz. Zur Wahl stehen Thomas Keck (SPD), Dr. Christian Schneider (CDU) und Dr. Carl-Gustav Kalbfell (FDP), außerdem Andreas Zimmermann (Die Partei).
Die Grünen-Spitze um Gabriele Janz hält sich mit einer Wahlempfehlung zurück. Von einer öffentlichen Talkrunde am Mittwoch im Dominohaus versprach sich die Stadträtin einen »Zugewinn an Erkenntnissen«. Um es vorweg zu sagen: Hinterher war man auch nicht viel klüger. Alle Kandidaten (bis auf Zimmermann, der gar nicht kam) breiteten Ideen aus, die tendenziell aus der grünen Schatulle stammten. Manche Zuhörer fragten sich am Ende gar, warum der eine oder andere nicht gleich für die Grünen kandidiert.
Moderatorin Bettina Jehne, Pressesprecherin der Landesgrünen, hatte um einen »persönlichen Gegenstand« gebeten, etwas »Symbolisches«, das die Kandidaten mitbringen sollten. Kalbfell zog ein Glas Honig aus der Tasche, das seine Bienenvölker produziert hatten, die er auf dem Rathausdach hält – Kalbfell ist Sozialbürgermeister in Leinfelden-Echterdingen. Für ihn ist der Honig ein Symbol der Nachhaltigkeit und die Art des Zustandekommens ein Beleg dafür, dass sich größere Einheiten selbst organisieren können, ohne Zutun eines dominanten Chefs – siehe Rathaus.
Schneider brachte das glatte Gegenteil mit, die »Quietsche-Ente« seiner Tochter nämlich, und sah darin ein Symbol für Bodenhaftung und Erdverbundenheit, die er als Oberbürgermeister behalten möchte. Bodenhaftung erfahre er in der Familie und auch in der Feuerwehr, wo er ehrenamtlich Dienst tut. Thomas Keck wiederum präsentierte ein altes Wengerter-Häble, ein Winzermesser aus dem Familienbesitz. Das historische Taschenmesser, nach dem immerhin eine Narrenzunft benannt ist, symbolisiere 400 Jahre Reutlinger Weinbau, den seine Familie maßgeblich mitgeprägt habe.
Mitgeprägt hat Keck als Stadtrat jahrzehntelang auch die Kommunalpolitik, um die es zwei Stunden lang ging. Grünen-Ratskollegin Janz beklagte die mangelnde Transparenz im Gemeinderat und erfuhr von Carl-Gustav Kalbfell, dass es in seiner Stadt ganz anders laufe – und gut laufe. Dort seien so ziemlich alle Sitzungen öffentlich, ein Zustand, den er sich auch für Reutlingen wünsche. Im Einklang mit der Konkurrenz: Man müsse die Menschen »frühzeitig mitnehmen«, befand Christian Schneider, etwa in Form eines Online-Portals oder bei Bürgeranhörungen. »Transparenz muss gelebt werden«, sagte auch Thomas Keck. Er leide oft mit, wenn die Öffentlichkeit Entscheidungen präsentiert bekomme, die in nichtöffentlichen Sitzungen getroffen werden und für den Bürger gar nicht nachvollziehbar seien. Aber nicht nur Bürger, sondern auch Fachgremien müssten früh eingebunden werden. Nach jüngsten Gesprächen mit Fahrradinitiativen sei ihm klar geworden, dass der viel diskutierte »Masterplan Rad« mit Fachleuten neu überarbeitet werden müsse.
Beim Thema Bauen herrschte über weite Strecken Gleichklang. Keck, Geschäftsführer beim Mieterbund und Mitglied des GWG-Aufsichtsrats, stellte der städtischen Wohnungsgesellschaft ein gutes Zeugnis aus, was die energetische Ausstattung des Wohnungsbestandes angeht. Die GWG habe 15 Jahre lang jährlich zehn Millionen Euro investiert. Allerdings müsse man Konzepte entwickeln für mehrgeschossige Passivhäuser. Dass Dächer auf städtischen Gebäuden so spärlich mit Solaranlagen bestückt seien, ist Keck ebenso ein Dorn im Auge wie den anderen Kandidaten. Kalbfell zeigte sich geradezu »geschockt«, dass die Stadt als größter Gebäudeeigentümer »so sperrig ist«. Hier müssten Rahmenverträge wie in Kusterdingen geschlossen werden. »Die Stadt verdient Geld und handelt dabei noch ökologisch nachhaltig, was gibt es Besseres.« Schneider sprach sich für Förderprogramme der Stadt aus, die Energieverlust verhindern und Solarenergie fördern. Bebauungspläne müssten »ganzheitlich gedacht« werden, um der Umwelt gerecht zu werden. »Die Stadt muss sich auf die Fahnen schreiben, wir wollen eine ökologisch saubere Stadt sein.«
Beim Artenschutz und beim Flächenverbrauch kamen dann doch unterschiedliche Geisteshaltungen zutage. Der Juchtenkäfer zum Beispiel sei allein schon durch das Tötungsverbot geschützt, sagte Schneider. Man könne ihn umsiedeln, wenn man auf dem fraglichen Bereich bauen wolle. Landwirtschaftliche Flächen seien schützenswert, weil sie regionale Produkte ohne große Wegbeziehungen hervorbringen. Thomas Keck sprach von einem »No-Go«: »Natur und Artenschutz gegen Flächengewinnung ausspielen zu wollen, das geht gar nicht.« An dieser Stelle wunderte sich der Liberale Kalbfell, »wie sich hier alles verbiegt«. Er habe in der Flüchtlingskrise keine Baugenehmigung für Heime bekommen »wegen dieser berühmten drei Eidechsen«. Man müsse da doch bitte die Kirche im Dorf lassen, Wohnungsbau sei ein sehr wichtiges Thema.
Auch den Bestrebungen mehrerer Fraktionen im Gemeinderat, die Stadt zu einem »sicheren Hafen« für gestrandete Flüchtlinge zu machen, erteilte Kalbfell eine Absage. Die Seebrücke sei keine kommunale Aufgabe. In seiner Funktion in Leinfelden sehe er, »wie Integration nicht gelingt«. Er habe keine Ambitionen, noch mehr Personen zu versorgen, musste sich im Gegenzug aber von Fast-Grünen-Kandidat Holger Bergmann sagen lassen, dass es sich beim »sicheren Hafen« um einen »symbolischen Antrag« der Fraktionen handle. Anders Christian Schneider: »Wir sollten uns das leisten«, forderte er. Er halte das für ein »gutes Signal, wenn wir sagen, wir leisten uns Humanität.« Ähnlich Thomas Keck: »Zuzuschauen, wie Menschen ertrinken, verstößt gegen unsere Christenpflicht.«
Ein konkretes kommunalpolitisches Thema war die Verwendung des ehemaligen Paketpostamts, das die Stadt durch eine Rathaus-Dependence ersetzen möchte. Keck will es stattdessen der Kultur zur Verfügung stellen, wohl wissend, "dass es Krach gibt mit der Baubürgermeisterin". Den Kulturschaffenden das Gebäude aus feuerschutzrechtlichen Gründen zu verwehren und keine Alternative anzubieten, sei kein gangbarer Weg. "Wo denn sonst", fragte auch Schneider, gäbe es Platz für junge Kultur, um sich niederzulassen, wo im Umfeld doch bereits kulturel-le Einrichtungen bestehen. "Ja zur Pa ketpost", sagte auch Kalbfell. Es sei ein geeigneter Bereich für Außenaktivitäten – Kulturfestivals etwa, wo sich unterschiedliche Kulturen präsentieren könnten. Es sei jedenfalls zu schade für den Neubau eines Rathauses.
Beim Thema Verkehr wollte sich Kalbfell nicht zu einer gänzlich autofreien Innenstadt bekennen. Für Keck hingegen ist die »autofreie Altstadt gesetzt«, ebenfalls die Neuaufteilung der Verkehrsräume. Und Schneider setzt auf einen Mobilitätsmix, auf die Verfügbarkeit schneller Verkehrsmittel und ein »ideologiefreies Verständnis«.
»Das Beste, was Sie tun können, ist zur Wahl zu gehen«, enthielt sich Gabriele Janz am Ende einer Empfehlung. Ihr Traum wäre eine Wahlbeteiligung von 50 Prozent. Von welchem Wahlsieger sie träumt, war nicht zu erfahren. (GEA)