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Oskar Kalbfell »war ein Macher« von Reutlingen

Oskar Kalbfell war erster Oberbürgermeister von Reutlingen nach dem Zweiten Weltkrieg und hat in seinen 28 Jahren Amtszeit viel bewegt. Er führte die Stadt im Wiederaufbau und darüber hinaus, war aber nicht unumstritten. Ein Rückblick aus Anlass seiner Wahl in den Bundestag vor 75 Jahren.

Oskar Kalbfell war der erste Oberbürgermeister von Reutlingen nach dem Zweiten Weltkrieg.
Oskar Kalbfell war der erste Oberbürgermeister von Reutlingen nach dem Zweiten Weltkrieg. Foto: Stadtarchiv
Oskar Kalbfell war der erste Oberbürgermeister von Reutlingen nach dem Zweiten Weltkrieg.
Foto: Stadtarchiv

REUTLINGEN. Der Bau des Freibads und des Stadions Kreuzeiche. Die Eingemeindung von Ohmenhausen und anderen Bezirken. Die Gründung des Landestheaters Württemberg-Hohenzollern und der Württembergischen Philharmonie. Der Neubau des neuen Rathauses und die Gründung einer Stiftung zur Förderung von Begabten. Eine Sporthalle ist nach ihm benannt, genauso wie ein Platz. Das sind nur einige Dinge, bei denen Oskar Kalbfell in seinen 28 Jahren als Oberbürgermeister für Reutlingen beteiligt war. Sein Name ist in der Stadt immer noch sehr präsent. Nun jährt sich seine Wahl in den Bundestag zum 75. Mal. Wer war dieser Mann?

Einer, der Kalbfell noch in seiner Amtszeit als Bürgermeister hautnah miterlebt hat, ist Christoph Barth. Das FDP-Mitglied war ab 1968 Teil des Gemeinderats. Der 87-Jährige ist der einzige noch lebende Stellvertreter von Kalbfell. Als er Teil des Gremiums wurde, lernte er den OB näher kennen und war beeindruckt. Barth erinnert sich: »Er besaß Persönlichkeit, strahlte mit seinem ganzen Habitus etwas Besonderes aus.« Kalbfell war, so Barth, ein großer Redner, der markant auftrat, »er war ein Macher.«

Kalbfell doch kein Vorbild?

Es gibt aber auch Zweifel an seiner Person. Zwar war er seit 1919 Mitglied in der SPD, politisch aktiv und machte bis zum Beginn des Krieges als Regimegegner auf sich aufmerksam. Wie jedoch auch auf der städtischen Website nachzulesen, stellte er überraschenderweise 1940 den Antrag zur Aufnahme in die Betzinger Ortsgruppe der NSDAP. Der Antrag wurde abgelehnt. Warum Kalbfell die Nähe zu den Nationalsozialisten suchte, weiß man bis heute nicht. Noch kontroverser diskutiert wurde ein Vorfall gegen Ende des Krieges. Als Vergeltung für den Tod eines Franzosen wurden vier Reutlinger Geiseln von den Besatzern im Schönen Weg erschossen. Noch heute steht dort ein Steinkreuz in Gedenken an die Opfer. Es halten sich Gerüchte, dass die Auswahl der Opfer über Kalbfell erfolgte. Er bestritt das zeit seines Lebens - man konnte es ihm nie nachweisen.

Abgesehen von diesen Episoden bleibt aber unstrittig, dass Oskar Kalbfell in den Jahren nach dem Krieg den Wiederaufbau von Reutlingen maßgeblich mitgestaltet hat. Er sorgte nicht nur für die materielle Reparatur, sondern auch für den Ausbau des Bildungswesens. Und beispiellos war sein Einsatz im Wohnungsbau. In seiner Amtszeit wurde die Gemeinnützige Wohnungsgesellschaft (GWG) gegründet, die den ersten Schritt zur Bekämpfung der Wohnungsnot darstellte. Und an diesen Mann erinnert sich auch der Liberale Christoph Barth: »In der gemeinsamen Zeit hat man viel gestaltet, viel ist geschehen.«

Als Barth in den Gemeinderat kam, war Kalbfell allerdings schon in den letzten Jahren seines Schaffens und nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte. Zwar setzte er sich in der letzten Wahl 1966 noch gegen seinen Konkurrenten Hans Kuhnert durch, Alters- und Krankheitserscheinungen waren ihm aber schon anzumerken. Barth erzählt: »Seine Kräfte ließen immer mehr nach. Er vergaß nach Diskussionen die Abstimmung und hatte für die Leitung der Sitzung nur noch etwa eine Stunde die erforderliche Energie. Oft kam es zwischen Kalbfell und dem ersten Bürgermeister Karl Guhl zu heftigen Auseinandersetzungen, weil Guhl eigenmächtig gehandelt oder Kalbfell den Vorgang vergessen hatte.« Schließlich wurde Kalbfell überzeugt, sein Amt 1973 niederzulegen. »Er erinnert mich an Joe Biden«, sagt Barth. »Beides große Politiker, die sich letztlich ihrem Alter beugen mussten.«

Jüngstes Mitglied im Gemeinderat

Kalbfell lebte ein bewegtes Leben. Der GEA ging dem Werdegang dieses »Machers« anlässlich seines 100. Geburtstages 1997 auf den Grund und schrieb: Kalbfell wurde 28. Oktober 1897 in Betzingen geboren. Seine Kindheit soll aber nicht leicht gewesen sein. Als er fünf Jahre alt war, starb sein Vater. Seine Mutter heiratete das Jahr darauf erneut, Geld wäre immer knapp in der inzwischen achtköpfigen Familie gewesen. Er soll bereits in jungen Jahren sehr wissbegierig gewesen ein, seine Familie konnte ihm aber nur die Volksschulbildung ermöglichen.

Das sollte seiner Laufbahn aber keinen Abbruch tun. Er machte eine Ausbildung zum Optiker und Feinmechaniker, besuchte nebenbei die Gewerbeschule, den Verein für Volksbildung und eine private Handelsschule und wurde zum Kaufmann. 1927 führte ihn sein Weg als Geschäftsführer einer Baufirma in die freie Wirtschaft.

Seine politische Heimat fand er mit 22 Jahren durch den Eintritt in die SPD. Es dauerte nicht lange, bis er zum ersten Mal richtig auf sich aufmerksam machte. Er wurde 1922 als jüngstes Mitglied in den Reutlinger Gemeinderat gewählt. Mit der Machtergreifung der NSDAP 1933 endete allerdings vorerst seine Laufbahn. Als politischer Gegner wurde er festgenommen und verbrachte neun Wochen im KZ Heuberg.

Auf dem französischen Panzer

Nachdem er aus der Haft in Heuberg wiedergekehrt war, machte er Karriere als freier Unternehmer. Außerdem machte sich auch einen Namen als Regimegegner. Als Teil der »Reutlinger Widerstandsgruppe« verhinderte er die von den Nazis befohlene Zerstörung der Infrastruktur Reutlingens.

Sein großer Stern ging dann mit Kriegsende 1945 auf. Als die französischen Truppen anrückten, trat er ihnen alleine entgegen, schwenkte die weiße Fahne und übergab die Stadt. Damit verhinderte er eine weitere Zerstörung Reutlingens. Seine Einfahrt auf einem französischen Panzer ist bis heute legendär. Er wurde darauf von den Besatzern als kommissarischer Oberbürgermeister eingesetzt und leitete ein Jahr später als gewählter OB von 1946 bis 1973 die Geschicke der Stadt, war zudem von 1949 bis 1953 Mitglied im Deutschen Bundestag.

Abseits der Politik war das Turnen seine große Leidenschaft. Er trat als 14-Jähriger in die Arbeitersportlerjugend ein und bildete später selbst Turnlehrer aus. Kalbfell war Vorsitzender des Arbeiter-Turnerbundes Betzingen. Bis zur Auflösung des Vereins durch die NSDAP 1933 war er auch überregional als Jugendleiter tätig. Seine Sportlichkeit sollte er bis ins hohe Alter behalten. Die demonstrierte er eindrucksvoll, wie der Spiegel einst berichtete: 1965 soll der Reutlinger OB anlässlich der Bundesjugendspiele eine Rede gehalten haben. Er sprach davon, dass auch er seit seiner Jugend sportlich aktiv war und dass er immer noch jeden Morgen Gymnastik mache. Die Kinder lachten und glaubten es dem 68-Jährigen nicht. Da unterbrach er seine Rede, trat vor und führte einen Handstand aus.

Christoph Barth erinnert sich an die Zeit mit Oskar Kalbfell im Gemeinderat.
Christoph Barth erinnert sich an die Zeit mit Oskar Kalbfell im Gemeinderat. Foto: Andreas Stephan
Christoph Barth erinnert sich an die Zeit mit Oskar Kalbfell im Gemeinderat.
Foto: Andreas Stephan

Barths langjähriger Parteikollege Hagen Kluck lernte Kalbfell 1966 kennen. Er beschreibt ihn so: »Er war ein Mann mit guten Ideen und mit Durchsetzungsvermögen.« Das brauchte er auch, wollte er »immer sehen, was er auf den Weg brachte«. Das war wohl auch einer der Gründe, warum Kalbfell in der Zeit im Bundestag nicht so sehr in Erscheinung trat. Die Bundespolitik machte es ihm nicht möglich, seine Ideen genauso schnell umzusetzen, wie die kommunale Ebene.

Am 5. November 1979 starb Oskar Kalbfell nach langer Krankheit in einem Reutlinger Pflegeheim. Man behält ihn in Erinnerung als den Mann, den Reutlingen nach Kriegsende nötig hatte. Mit seinen Entscheidungen, seinen Visionen und seinem Durchsetzungsvermögen. »Er hat die Weichen für den Wiederaufbau Reutlingens gestellt«, sagt Kluck. »Er spielte eine sehr wichtige Rolle für die Stadt.«
Oskar Kalbfell war ein Macher. (GEA)