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Aktuell Bombenkrieg

Luftangriffe 1945: Teile von Reutlingen in Schutt und Asche

Die Bombenangriffe auf Reutlingen in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs hinterließen eine Stadt in Trümmern. Ganze Viertel wurden zerstört, Hunderte Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt.

Besonders verheerend waren die Kriegsschäden in der Karlstraße. Dieses Bild dokumentiert statt Straßenzügen nur noch Schutt und
Besonders verheerend waren die Kriegsschäden in der Karlstraße. Dieses Bild dokumentiert statt Straßenzügen nur noch Schutt und Asche. Viele Menschen kamen bei Luftangriffen ums Leben, meistens in ihren eigenen Schutzkellern. FOTO: HAUS DER GESCHICHTE
Besonders verheerend waren die Kriegsschäden in der Karlstraße. Dieses Bild dokumentiert statt Straßenzügen nur noch Schutt und Asche. Viele Menschen kamen bei Luftangriffen ums Leben, meistens in ihren eigenen Schutzkellern. FOTO: HAUS DER GESCHICHTE

REUTLINGEN. Das muss man sich heute mal vorstellen: Wenige Wochen vor der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht haben drei große Luftangriffe in Reutlingen für Tote und Verletzte gesorgt, ganze Straßenzüge in Schutt und Asche gelegt. Die Bilder von damals bringen einen schwer ins Grübeln, denn sie sehen fast so aus wie die Fotos aus der Ukraine, dem Gaza-Streifen oder dem Libanon.

Das Stadtarchiv bewahrt eine schreckliche Karte auf. Leicht vergilbt zeigt der »Plan Nr. 8 Zerstörung – Wiederaufbau« aus dem Jahr 1946 im Maßstab 1:5.000 das Ausmaß der Kriegsfolgen. Gelb markiert sind Liegenschaften mit einem Zerstörungsgrad von mehr als 75 Prozent. Rot erscheinen Gebäude, »die schwer beschädigt, aber noch zu reparieren sind«. Blau schließlich zu weniger als 50 Prozent beschädigte Liegenschaften. Der Blick auf diese Karte, hinter der sich unendliches menschliches Leid verbirgt, ist auch Jahrzehnte später erschreckend.

Die Innenstadt hat großflächig gelitten. Ganz schlimm sieht es im Bahnhofsviertel aus. Zwischen Karlstraße und Bahnhofstraße ist kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Auch gegenüber der Bahnlinie zeigen gelbe und blaue Farbmarkierungen die verheerende Wirkung der Bombenangriffe. Die Verwüstungen reichen weit nach hinten bis zur Silberburgstraße, ziehen sich auch die Bismarck- und Kaiserstraße hoch. Massiv sind die Spuren der Bombenangriffe auch in der Altstadt vom Marktplatz runter bis zum Bahnhof. Ebenso betroffen das, was heute als Bürgerpark im Stadtplan steht, damals eben teilweise Industriegelände ist.

»Die Alliierten richteten große Zerstörungen mit relativ wenig Bomben an«

Zweiter Schwerpunkt von Tod und Zerstörung sind die Viertel ab dem Burgplatz entlang der Echaz. Zwischen Albstraße und Lindachstraße haben die Bomber großflächig die Gebäude am Boden zerstört. Verschont geblieben ist laut der Karte weitestgehend die heutige Oststadt sowie die Altstadt vom Burgplatz bis zum Marktplatz.

Was das für Zeitzeugen bedeutet hat, machte Hans-Walter Müller zum 75. Jahrestag des Kriegsendes in einem bewegenden Gespräch mit GEA-Redakteur Hans Jörg Conzelmann deutlich. Er hat den ersten von drei schweren Bombenangriffen auf Reutlingen am 15. Januar 1945 hautnah erlebt, bei dem 152 Menschen starben. Reutlingen bekam eine Bombenlast von 156 Tonnen ab: 1.400 Sprengbomben und rund 6.000 Brandbomben. Hauptziel war der Bahnhof. Am Karlsplatz und in der Liststraße wurden ganze Häuserzeilen dem Erdboden gleichgemacht. Die Listhalle brannte vollständig aus. Müller erinnert sich noch genau, wie sein Vater schrie: »Nichts wie runter in den Keller.« Doch so weit schafften sie es nicht. »Ich sehe die Flieger am Himmel wie heute, und dann hat’s gekracht.« Eine Bombe schlug in ihr dreistöckiges Haus in der Karlstraße ein. Mauern zerbrachen, Holz zerbarst, Decken stürzten ein. Dann wurde es dunkel um Hans-Walter Müller.

Das Haus der Familie Müller stand in der Karlstraße, dem Zentrum des ersten Angriffs. Müllers betrieben eine gut gehende Metzgerei im Erdgeschoss. Im ersten Stock wohnten sie selbst, einen Stock drüber ein Arztehepaar. Auch das dritte Geschoss war vermietet. Doch die gesamte Häuserfront war aufgerissen, es war nichts mehr zu machen. Nach dem Krieg wurde des Haus abgeräumt. Wo es stand, verläuft heute die inzwischen deutlich breitere Karlstraße. Besonders vernichtend, so berichtet die Historikerin Ute Ströbele über diesen Angriff in der Chronik »Reutlingen 1930 bis 1950 – Nationalsozialismus und Nachkriegszeit«, wirkten sich die Brandbomben aus. Das lesenswerte Begleitbuch zur damaligen Ausstellung kann heute auf der Webseite des Stadtarchivs komplett heruntergeladen werden.

Brandbomben verursachten im Januar 1945 170 Großfeuer, 50 mittelgroße Feuer und 300 kleinere Feuer. »Ganz Reutlingen war in Rauch gehüllt, es regnete Aschenflocken.« Laut städtischen Quellen wurden über 400 Häuser total zerstört. Über 600 Gebäude erlitten mittlere und leichte Schäden. Der zweite große Angriff am 22. Februar wies mit 150 Totalschäden und über 200 leicht beschädigten Gebäuden eine geringere Zerstörungsrate auf. »Vor allem Wohnviertel wurden getroffen«, steht in Dokumenten des Stadtarchivs, »ein Teil der Bomben ging über dem freien Gelände des Gewands Wasen nieder. Dort wurde das Naturtheater zerstört und das Freizeitheim beschädigt«.

»Die meisten Opfer kamen in ihren Luftschutzkellern ums Leben«

Für den Angriff am 1. März 1945 belaufen sich die Schätzungen auf 300 Gebäude mit totalen Schäden und auf über 500 Häuser mit leichten Beschädigungen. Die Chroniken dokumentieren 600 Sprengbomben und 11.000 Stabbrandbomben. Ziel war erneut die Gegend um den Bahnhof. Total zerstört wurden sechs Fabriken, drei Warenhäuser, vier Lagerhäuser und mehrere besonders markante Gebäude. Kurz vor Kriegsende werden das Rathaus, das Hotel Kronprinz, die Volksbank, die Dresdner Bank, das Bankhaus Ruoff, das Gasthaus zur Traube und neben der Eben-ezerkapelle auch der Karlsgarten platt gemacht.

Das Fazit der Historikerin Ströbele über die Folgen des Bombenkrieges für Reutlingen ist in mehrfacher Hinsicht tieftraurig. So gehörte die Achalm-Metropole zu den »zehn am stärksten betroffenen Städten« in Baden-Württemberg. »In Reutlingen richteten die Alliierten mit einem relativ geringen Einsatz an Bomben relativ große Zerstörungen an«, rechnet sie vor. Die meisten Opfer der Bombereinsätze kamen tragischerweise laut Ströbele »in ihren eigenen Luftschutzkellern, in denen sie eigentlich Schutz gesucht hatten, ums Leben«. Und bei der überwiegenden Mehrzahl der Betroffenen handelte es sich um Privatpersonen.

Während der 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung von der Terrorherrschaft der Nazis – sprich der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht – gilt, endete der Zweite Weltkrieg für viele Reutlingerinnen und Reutlinger bereits mit dem Einmarsch französischer Truppen am 20. April 1945. (GEA)

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