REUTLINGEN-DEGERSCHLACHT. Bittere Nachrichten für die Senioren im Reutlinger Nordraum. In Degerschlacht ist ein Pflegeheim mit rund 60 Plätzen geplant. Doch es scheint mittlerweile ganz so, als ob sich - zumindest auf einigermaßen absehbare Zeit - kein Investor fürs Projekt finden wird. Besonders bitter ist das, weil eigentlich alles planmäßig und gut verlaufen ist in den letzten Monaten. Dass das Gebiet an der Kreuzung Leibl- und Leopoldstraße nun bebauungsreif ist, ist auch dem Verhandlungsgeschick von Bezirksbürgermeisterin Ute Dunkl und ihrem Gremium zu verdanken. Die sechs Grundstücksbesitzer konnten schließlich überzeugt werden »ihrer sozialen Verantwortung nachzukommen«, freute sich Dunkl noch im Februar gegenüber dem GEA. Sie traten Teile ihres Eigentums für das Pflegeheim ab. Ein Pflegeheim, das so nun gar nicht kommen wird?
Reutlingens Sozialamtsleiter Joachim Haas drückt's diplomatisch aus: »Wir führen immer noch Gespräche mit potenziellen Investoren. Aber wir haben bisher keine Zusage bekommen.« Man habe diverse Träger angefragt, »mit unseren örtlichen angefangen«. Doch zumindest die bislang angefragten Träger hätten eine Absage erteilt. Das habe aber mitnichten mit einem mangelnden Interesse zu tun, betont Haas - sondern mit wirklich schlechten Rahmenbedingungen in der Branche.
Während früher das Land den Bau von Pflegeheimen gefördert hat, werden die Gebäudekosten seit rund 10 Jahren über die Pflegebedürftigen gegenfinanziert. Bedeutet konkret: Deren Beiträge sind deutlich gestiegen. Das Gebäude wird über den sogenannten Investitionskostensatz (IK-Satz) bezahlt, der sich in den Pflegekosten eines jeden Heimbewohners niederschlägt.
Sozialamtsleiter Haas hat dazu auch gleich Zahlen parat: Im Haus Lindach, betrieben von der Reutlinger Altenhilfe (RAH), liegt der IK-Satz noch bei 18 Euro pro Tag. Das Heim wurde vor besagter Förderungsänderung gebaut. Im Haus Voller Brunnen, das immerhin noch vor der Baukostenexplosion geplant wurde, liegt der IK-Satz bei 38 Euro. Im Pflegeheim, das die RAH aktuell in Ohmenhausen plant, liegt er schon bei mehr als 50 Euro. Ein Investor muss sich das Geld, das er in den Bau eines Heimes steckt, durch den IK-Satz von den Pflegebedürftigen zurückholen. »Der IK-Satz ist im Grunde die Kaltmiete, die über den Bewohner finanziert wird«, erklärt Timo Vollmer, der Geschäftsführer der RAH. Damit diese Rechnung aufgeht, muss ein Heim voll belegt sein.
»Der IK-Satz ist im Grunde die Kaltmiete, die über den Bewohner finanziert wird«
Und hier schlägt nun gnadenlos der Fachkräftemangel in der Branche zu. Wenn nämlich aufgrund von Personalmangel eine oder mehrere Stationen nicht betrieben werden können, geht diese Rechnung schon nicht mehr auf. Träger können in finanzielle Schieflage geraten. »Die Gesamtgemengelage für Träger in der Altenhilfe hat sich sehr verschlechtert«, sagt Vollmer. »Wir haben zunehmend Insolvenzen in der Branche.«
Warum die RAH trotzdem in Ohmenhausen baut? Dem liegt zum einen eine so einfache wie bittere Wahrheit zugrunde. Die Nachfrage ist da, auch wenn die Preise für einen Heimplatz explodieren. Das teuerste RAH-Haus ist der Volle Brunnen. »Hier zahlt der Bewohner pro Monat knapp 4.000 Euro selbst«, sagt Vollmer. Und der Andrang ist trotzdem ungebrochen, die Auslastung liegt laut ihm bei mehr als 99 Prozent. Zum anderen schätzt Vollmer die Personallage nicht ganz so desaströs ein, wie andere in der Branche. »Ich glaube, dass der Ballungsraum Reutlingen attraktiv für Arbeitskräfte ist.«
»Die Lage auf dem Personalmarkt wird sich nicht verbessern«
Ein zweites Bauprojekt parallel kam für die RAH nicht in Frage, sagt Vollmer. Degerschlacht war also raus. Vollmer ist aber auch ehrlich: »Würden wir nach Ohmenhausen nochmal einen Neubau planen? Sicherlich nicht mit rein stationärer Pflege. Die Lage auf dem Personalmarkt wird sich nicht verbessern.« Dann spricht er von der Tagespflege, für die man deutlich einfacher Personal finde. Montag bis Freitag, 8 bis 16 Uhr -Arbeitszeiten, die weniger abschrecken, als Wochenenddienste und Nachtschichten.
Wie es nun in Degerschlacht weitergeht? Sozialamtsleiter Haas zeigt sich im GEA-Gespräch zweckmäßig optimistisch: »Wir haben die Suche nicht aufgegeben, wir suchen aktiv weiter nach einem Investor.« Aber: »Sollten wir keinen Träger finden, müssen wir uns über alternative Modelle der Pflege auf diesem Grundstück Gedanken machen.« Wie das aussehen könne, »das muss man mit einem potenziellen Träger gemeinsam entwickeln«. Haas spricht von einer - wie auch immer ausgearbeiteten - »Mischung von ambulanter und stationärer Form«. Auch Timo Vollmer bringt solch' eine Mischung zur Sprache, beispielsweise »ambulant betreute Wohngemeinschaften« oder »stationäre Einrichtungen, die von einem ambulanten Dienst versorgt werden«. Doch klar ist auch: Eine solche Neukonzeption würde deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen, als der Neubau eines klassischen Pflegeheims.
»Wir haben die Suche nicht aufgegeben, wir suchen aktiv weiter nach einem Investor«
Degerschlachts Bezirksbürgermeisterin Ute Dunkl will noch gar nicht über den möglicherweise platzenden Traum des Pflegeheims nachdenken, »getreu dem Motto: Die Hoffnung stirbt zuletzt«. Sie lobt, dass sich die Stadt auch über alternative Möglichkeiten Gedanken macht. »Was ich auf keinen Fall will, ist eine Fläche in Degerschlacht, die brach liegt.« Auch im Sickenhäuser Bezirksgemeinderat sorgte die Nachricht der bislang negativ verlaufenden Suche nach einem Investor für lange Gesichter. Die beiden Gemeinden hatten beim Projekt eng zusammengearbeitet, auch in Sickenhausen gibt es aktuell kein Pflegeheim. (GEA)