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Aktuell Pflege

Können sich Reutlinger den Heimplatz noch leisten?

Viele Senioren in Stadt und Kreis Reutlingen können den Platz im Pflegeheim nicht mehr aus eigener Tasche bezahlen. Dann springt der Kreis ein. Wie viel das jährlich kostet und warum das Pflegesystem in seiner jetzigen Form dringenden Reformbedarf hat.

Viele Senioren können den Platz im Pflegeheim nicht mehr aus eigener Tasche finanzieren.
Viele Senioren können den Platz im Pflegeheim nicht mehr aus eigener Tasche finanzieren. Foto: Marcus Hofmann/stock.adobe
Viele Senioren können den Platz im Pflegeheim nicht mehr aus eigener Tasche finanzieren.
Foto: Marcus Hofmann/stock.adobe

KREIS REUTLINGEN. Rund 5.000 Euro kann ein Platz in einem Pflegeheim mittlerweile kosten. Pro Monat. Es ist der Alptraum vieler Senioren. Selbst wenn die Pflegeversicherung einen großen Teil dieser Kosten erstattet, bleiben weit über 3.000 Euro Eigenanteil pro Monat für viele Menschen übrig - was ganz schnell das Ersparte eines kompletten Arbeitslebens dahin schwinden lässt. »30 bis 40 Prozent unserer Bewohner können ihren Pflegeheimplatz mittlerweile nicht mehr in voller Höhe selbst zahlen«, sagt Timo Vollmer, der Geschäftsführer der Reutlinger Altenhilfe (RAH). Und es ist kein Ende in Sicht, denn die Heimkosten schießen weiter in die Höhe. Steigende Personalkosten, mehr Personal für die gleiche Bewohnerzahl, verteuerte Lebensmittel und Energie: Alles muss am Ende auf die Bewohner umgelegt werden. Die RAH hat das Jahr 2023 mit einem Minus von 700.000 Euro abgeschlossen - es ist ein Teufelskreis.

Wenn das Vermögen eines Seniors aufgebraucht ist, wird dieser aber nicht vor die Türe gesetzt. Dann kann er vielmehr einen Antrag auf »Hilfe zur Pflege« stellen. Die Sozialämter von Stadt und Landkreis prüfen diese Anträge dann, was immer zeitaufwendiger wird. Sind wirklich keine Vermögenswerte mehr da? »Das ist eine wirklich komplexe Arbeit«, sagt Joachim Haas, der Sozialamtsleiter der Stadt Reutlingen. »Da kann es auch oft zu anwaltlichen Streitigkeiten kommen.« Der BIVA-Pflegeschutzbund teilt auf GEA-Anfrage mit: »Wir hören immer häufiger, dass Einrichtungen in Vorleistung gehen müssen, weil die Anträge beim Sozialamt lange liegen.« Man spreche hierbei von Bearbeitungszeiten von sechs bis neun Monaten. In dieser Zeit muss der Pflegeheimträger finanziell einspringen - was für ihn ein weiteres Risiko bedeutet.

2023 hat der Landkreis 9,32 Millionen Euro für die »Hilfe zur Pflege« ausgegeben

2023 konnten 548 Menschen im Landkreis Reutlingen ihren Heimplatz nicht mehr selbst bezahlen, ungefähr die Hälfte davon lebt im Gebiet der Stadt Reutlingen. Das hat den Landkreis 9,32 Millionen Euro gekostet. Zum Vergleich: 2022 hat der Landkreis noch 8,08 Millionen Euro für die »Hilfe zur Pflege« bezahlt. Nachdem die Kosten-Kurve von 2021 auf 2022 aufgrund eines Bundesgesetzes kurzfristig abgesunken war, steigt sie nun wieder langsam, aber kontinuierlich an. Und das in einer Zeit, in der die Städte und Landkreise finanziell so schlecht dastehen, wie selten davor. Die Zahlen für 2024 liegen bei Stadt und Kreis noch nicht final vor. Doch Sozialamtsleiter Haas und Kreis-Sozialdezernent Andreas Bauer prophezeien einen weiteren Anstieg. Für 2025 sind im Kreishaushalt 11,01 Millionen Euro eingeplant. Zum Vergleich: Im Jahr 2003 hat der Landkreis 5 Millionen Euro für die »Hilfe zur Pflege« bezahlt.

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Viele Senioren in Stadt und Kreis Reutlingen können den Platz im Pflegeheim nicht mehr aus eigener Tasche bezahlen. Rund 5.000 Euro kann so ein Platz pro Monat mittlerweile kosten.

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2005 hat der Landkreis Reutlingen die Organisation der »Hilfe zur Pflege« im Stadtgebiet an die Stadt übertragen. Heißt: Sozialamtsleiter Haas und sein Team sind seitdem für Prüfung und Bewilligung der Leistungen zuständig - das Geld kommt aber vom Kreis. Zum allergrößten Teil finanziert durch die Kreisumlage - die zu 40 Prozent wiederum von der Stadt Reutlingen selbst bezahlt wird, weil diese mit über 40 Prozent der Kreisbevölkerung die größte Stadt im Kreisgebiet ist. Dass die Großstadt einen Löwenanteil der Kreisumlage bezahlt, aber weiter organisatorisch unter der Obhut des Kreises steht, war einst einer der Hauptstreitpunkte beim Thema Stadtkreisgründung.

Wie könnten Lösungen aussehen?

Aber zurück zur Pflege. Ein Großteil der Menschen, die kein Vermögen mehr haben, müssen auf die »Hilfe zur Pflege« zurückgreifen. Kinder müssen nur noch in seltenen Fällen einspringen. Grund: Die Grenze für Elternunterhalt wurde ab Januar 2020 auf 100.000 Euro brutto Jahresverdienst festgelegt. Nur wer mehr verdient, muss seine Eltern im Heim finanziell unterstützen. Wenn ein Ehepartner ins Heim muss, der andere aber nicht, muss dieser finanziell für den Pflegebedürftigen einstehen. Ihm bleibt eine gewisse Grundsumme zum Leben pro Monat. Ein Haus, das noch vom Nicht-Pflegebedürftigen bewohnt wird, muss nicht verkauft werden. Dann legt vielmehr das Sozialamt sozusagen die Hand übers Grundbuch und springt zunächst finanziell ein. Niemand wird aus seinem Haus geworfen. Sobald der zweite Partner dann aber verstorben ist oder nicht mehr im Haus lebt, es also zur Erbmasse wird, fordert der Kreis seine Vorleistungen zurück. Was jedoch bei weitem nicht reicht, um die Aufwendungen zu decken, die für die »Hilfe zur Pflege« anfallen. Es ist eine Dynamik, die schnell durchbrochen werden sollte. Denn spätestens, wenn die Generation der Babyboomer ins Pflegealter kommt, steht dieses fragile System vor dem Kollaps.

Kreis-Sozialdezernent Bauer erklärt im GEA-Gespräch, wie politische Lösungen aussehen könnten - treffen muss diese Entscheidungen am Ende die neue Bundesregierung. »Eine Lösung könnte sein, dass Arbeitnehmer während ihrer Erwerbstätigkeit noch mehr in die Pflegekassen einzahlen.« Und diese dann mehr von den Pflegeheimkosten übernehmen können. Zweite Möglichkeit: Bund und Land bezuschussen die Heimbewohner aus Steuermitteln, sodass deren Eigenanteil weiter sinkt. Vor allem seitdem sich das Land vor rund zehn Jahren aus der Förderung für Heim-Neubauten zurückgezogen hat, ist das zu »erwirtschaftende« Delta sehr groß. Ein Heim muss voll belegt sein, damit es sich schnell refinanziert. Das hat die Situation laut Bauer noch weiter verschärft. Würde sich das Land wieder an der Neubau-Förderung beteiligen, könnte man verhindern, dass die Heimkosten weiter so steil nach oben gehen. Es wäre zumindest ein Beitrag, um weitere Kostensteigerungen zu verhindern. (GEA)