REUTLINGEN. In dem Auto, das jetzt ein Haufen Blech ist, saß im Mai 2011 ein 18-Jähriger. Gestern stand der Opel Meriva, oder was von ihm übrig geblieben ist, auf dem Schulhof des Berufsschulzentrums. Das Auto war vor acht Jahren mit 130 Kilometern in der Stunde frontal gegen einen Baum gekracht. Der junge Fahrer war sofort tot, obwohl die Airbags ausgelöst hatten.
Ein paar Meter weiter ist ein anderer Stand aufgebaut. Im Gurtschlitten der Kreisverkehrswacht Tübingen sitzt eine junge Frau. Sie ist angeschnallt, als der Schlitten mit zehn Kilometern in der Stunde gegen ein Stahlrohr rumst. Wäre die Frau nicht angeschnallt gewesen, hätte es sie vermutlich aus dem Sitz katapultiert.
Sowohl der verunfallte Meriva als auch der Gurtschlitten waren Bestandteil eines Aktionstags, der bereits zum fünften Mal Schüler und junge Erwachsene für gefährliche Situationen im Straßenverkehr sensibilisieren sollte.
Ins Leben gerufen wurde die Aktion unter Beteiligung des Innenministeriums Baden-Württemberg, der Unfallkasse Baden-Württemberg und der Aktion »Gib acht im Verkehr«. Der Aktionstag »No Game – sicher fahren. Sicher leben« wird jedes Jahr von einem anderen Polizeipräsidium ausgerichtet. Reutlingen hat in diesem Jahr den Staffelstab vom Polizeipräsidium Konstanz übernommen. Im nächsten Jahr geht’s im Oktober nach Karlsruhe. Unterstützt wird der Reutlinger Aktionstag vom Förderverein Kriminal- und Verkehrsprävention im Landkreis.
Bremsweg testen
In 51,5 Prozent der Unfälle im Bereich des Polizeipräsidiums Reutlingen, also in den Landkreisen Reutlingen, Tübingen und Esslingen, wurden im Jahr 2018 junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 24 Jahren als Unfallverursacher registriert. Vor allem die jungen Fahranfänger wurden gestern den ganzen Tag an Aktionsständen, in Workshops und Vorträgen auf Risiken und Gefahren im Straßenverkehr hingewiesen. 32 Angebote standen zur Wahl. Ein Unfallopfer berichtete über die dramatischen Folgen seines Unfalls. Er sitzt im Rollstuhl.
Die Feuerwehr verdeutlichte beispielsweise, wie schwierig und aufwendig es sein kann, eine verunfallte Person aus dem Auto zu bergen – trotz moderner und leistungsfähiger Werkzeuge. An einem anderen Stand konnte mit einer Simulationsbrille getestet werden, wie das Gehirn bei 1,2 Promille funktioniert. Wer sich mit der Brille auf der Nase im Seillaufen versuchte, geriet flugs ins Stolpern.
Lange Schlangen bildeten sich auch vor einem Fahrsimulator – bremsen oder ausweichen? – und vor einem Überschlagssimulator: Wie kommt man aus einem auf dem Kopf liegenden Auto heraus? Und wie lang ist der Anhalteweg, wenn ein Auto mit Tempo 30 oder Tempo 50 unterwegs ist und eine Vollbremsung notwendig wird? Fast fünf beziehungsweise annähernd 13 Meter waren die Antworten, die so manchen Schüler dann doch überraschten.
7 500 Schüler gehen auf eine der vier Schulen am Berufsschulzentrum: Kerschensteinerschule, Theodor-Heuss-Schule, Laura-Schradin-Schule und Ferdinand-von-Steinbeis-Schule. Obwohl ein Drittel bis die Hälfte bereits ihre Zeugnisse erhalten und sich in die Ferien verabschiedet hatten, war die Resonanz an den Aktionsständen beachtlich. »Viele Schüler am Berufsschulzentrum werden gerade volljährig und machen ihren Führerschein. Deshalb ist das Berufsschulzentrum ein guter Veranstaltungsort«, sagt Horst Kern, Schulleiter der Theodor-Heuss-Schule.
Der Spruch, aus Schaden werde man klug, stimme im Straßenverkehr nur bedingt. Vor allem dann, wenn es sich um einen schweren Unfall handle, sagte Polizeipräsident Alexander Pick. Der Aktionstag sei allerdings keine Veranstaltung, die mit »erhobenem Zeigefinger« daherkomme. »Wir setzen stattdessen auf Mitmachaktionen.«
Beeindruckt von Themenvielfalt
Pro Jahr gebe es im Landkreis von Führerscheinneulingen 3 300 Anträge auf eine Fahrerlaubnis. »Wir wollen sie mit der ausgestreckten Hand sensibilisieren«, sagte Landrat Thomas Reumann, der wie alle Redner den hohen Organisationsaufwand für diesen Aktionstag hervorhob. Das Polizeipräsidium Reutlingen war diesbezüglich fast ein Dreivierteljahr federführend beschäftigt. »Ich bin beeindruckt von der Themenvielfalt«, sagte auch Landespolizeidirektor Karl Himmelhan.
Dass gerade die 18- bis 24-Jährigen oft mit höchstem Risiko fahren, bestätigt die Statistik. Im Präsidiumsbereich gab es im vergangenen Jahr zwar weniger Unfälle, aber mehr in dieser Altersgruppe. Die Gesamtzahl der Unfälle fiel um 4,6 Prozent auf 2 292. Fünf Menschen verloren ihr Leben. Zu den Hauptursachen zählen mit etwa 24 Prozent Vorfahrtsverletzungen. Geschwindigkeit und Fehler beim Abbiegen, Wenden und Rückwärtsfahren schlagen mit jeweils rund 15 Prozent zu Buche, gefolgt von Abstandverstößen (elf Prozent), mangelnde Verkehrstüchtigkeit (sieben Prozent) und Überholen (vier Prozent). »Wir müssen uns um die Verkehrssicherheit der jungen Menschen kümmern«, sagte Karl Himmelhan. Viele Unfälle passierten, weil die Fahrer zu schnell oder zu riskant unterwegs seien oder sie sich durch ihr Smartphone ablenken lassen. Dass viele Schüler des Berufsschulzentrums oft mit dem eigenen Auto kommen müssen, weil ihre Ausbildungsbetriebe nur so zu erreichen sind und entsprechende Angebote des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) fehlen, bemängelte Karl Himmelhan, der die E-Mobilität als »neue Herausforderung« für die Polizei bezeichnete.
Vor allem die Entwicklung bei den Elektro-Scootern, also den Tretrollern mit elektrischem Antrieb, werde sehr genau beobachtet. Vielen Fahrern sei nicht klar, dass es sich bei Elektro-Scootern um Kraftfahrzeuge handle. Wer alkoholisiert beim Fahren erwischt werde, müsse mit ähnlichen Konsequenzen rechnen wie jeder andere Verkehrsteilnehmer, der unter Alkoholeinfluss fährt. (GEA)