REUTLINGEN. Die Nachrichten sind ermutigend und wären vor 30 Jahren, als die Aidshilfe gegründet wurde, undenkbar gewesen: HIV ist unter wirksamer Therapie nicht mehr übertragbar. Dank Medikamenten ist Partnerschutz, Sex ohne Kondom, Kinder bekommen für Betroffene möglich. Generell bleibt das Übertragungsrisiko bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit HIV-positiven Menschen ohne Therapie oder bei Therapiemängeln aber bestehen.
Die Zahl der HIV-Neuinfektionen ist in Deutschland seit einigen Jahren wieder gesunken, sagen Brigitte Ströbele, Geschäftsführerin der Aidshilfe Reutlingen/Tübingen und Dr. Evelyn Thumm vom Kreisgesundheitsamt anlässlich des Welt-Aids-Tages am morgigen Samstag.
Hauptgrund für den Rückgang ist eine Änderung der Behandlungsleitlinien vor drei Jahren. HIV-positive Menschen erhalten jetzt sofort nach der Diagnose eine medikamentöse Behandlung. So bleibt die Gesundheit besser erhalten und Betroffene haben eine annähernd normale Lebenserwartung. Trotzdem ist noch viel Aufklärungsarbeit notwendig: »Die Stigmatisierung und Ausgrenzung der Erkrankten ist nach wie vor ein Riesenproblem«, sagt Brigitte Ströbele.
Neuinfektionen leicht gesunken
»Pro Jahr lassen sich im Kreisgesundheitsamt Reutlingen etwa 700 Menschen aller Altersgruppen im Rahmen einer anonymen Sprechstunde auf HIV und andere sexuell übertragbaren Krankheiten testen«, sagt Evelyn Thumm. 0,5 Prozent aller HIV-Testungen waren positiv. »In diesem Jahr zeigt sich bisher ein Rückgang auf 0,3 Prozent positiver HIV-Tests.«
Dieser Tage hat das Robert-Koch-Institut neue Zahlen zum HIV/AIDS-Geschehen in Deutschland veröffentlicht. Im vergangenen Jahr haben sich 2 700 Menschen in Deutschland mit dem Humanes Immundefizienz-Virus (HIV) infiziert. Die Zahl der Neuinfektionen ist damit gegenüber 2016 (2 900 Neuinfektionen) leicht gesunken. Bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), ist die Zahl der geschätzten Neuinfektionen deutlich zurückgegangen, von 2 300 im Jahr 2013 auf 1 700 in 2017. Insgesamt lebten Ende 2017 geschätzt 86 100 Menschen mit HIV in Deutschland. Etwa 450 Menschen sind 2017 mit oder an HIV gestorben.
»In Deutschland gibt es geschätzt 11 300 Menschen mit HIV, die nicht wissen, dass sie infiziert sind. Freiwillige Selbsttests und niedrigschwellige Testangebote, auch für Menschen ohne Krankenversicherung, sind daher wichtig, damit Menschen mit HIV-Infektion behandelt werden können«, sagt Lothar H. Wieler, Präsident des Robert Koch-Instituts. Die effektive und frühe Behandlung nach der Diagnose, der Ausbau zielgruppenspezifischer Testangebote und die gestiegene Testbereitschaft der Betroffenen seien wesentliche Gründe für die sinkende Zahl der HIV-Neuinfektionen, sagt Lothar H. Wieler.
Unter dem Label »Checkpoint« bieten die Aidshilfen in Baden-Württemberg anonyme Tests, nicht nur auf HIV, sondern auch auf andere sexuell übertragbare Infektionen an. Die Tests finden niedrigschwellig unter hohen hygienischen Bedingungen, immer in Anwesenheit von Ärzten statt. Für den HIV-Test genügt in der Regel ein kleiner Piks in den Finger zur Blutentnahme. Im Dezember und Januar werben die baden-württembergischen Aidshilfen mit kostenlosen Testangeboten dafür, sich testen zu lassen.
Selbsttest frei verkäuflich
Neben den Testmöglichkeiten in Arztpraxen, Checkpoints oder Gesundheitsämtern, ist seit Oktober der HIV-Selbsttest in Deutschland frei verkäuflich. Erhältlich ist dieser, neben dem Onlinehandel, in Apotheken, teilnehmenden Aidshilfen und voraussichtlich bald auch in Drogeriemärkten. »Es gibt diesen Schnelltest als Selbst- und Heimtest auch bei der Aidshilfe Reutlingen/Tübingen. Er kostet pro Stück 20 Euro«, sagt Brigitte Ströbele.
Wirksamen Schutz vor einer Ansteckung biete auch die »medikamentöse HIV-Prävention«, kurz PrEP, sagt Evelyn Thumm. Ein im August vor zwei Jahren zugelassenes Medikament schützt Menschen mit hohem HIV-Infektionsrisiko. »Wenn das Virus in den Körper gelangt, verhindert das Medikament, dass das HI-Virus in die Körperzellen eindringen und sich vermehren kann. Dadurch kann eine HIV-Infektion zu über 95 Prozent verhindert werden.« Zurzeit kostet das Medikament 50 Euro im Monat. Man könne allerdings davon ausgehen, sagt Brigitte Ströbele, dass im Frühjahr oder Sommer des nächsten Jahres die Krankenkassen dies übernehmen. »Die PrEP ist neben der HIV-Therapie und der HIV-Testung ein wichtiger Baustein der HIV-Prävention und dient dazu, die Zahl der Neuinfektionen zu reduzieren.«
Weil aber trotz guter Behandlungserfolge und wirksamer Schutzmöglichkeiten Betroffene immer noch unter einer zum Teil massiven Stigmatisierung leiden, startet die Aids-Hilfe unter dem Motto #wissenverdoppeln eine neue Kampagne mit der zentralen Botschaft, dass unter Therapie HIV nicht mehr übertragbar ist. Nur zehn Prozent der Bevölkerung kennen diese wissenschaftliche Tatsache, ergab eine Umfrage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Erstes Etappenziel der Kampagne: Die Zahl der Informierten soll sich verdoppeln – so lange, bis alle Bescheid wissen.
Die Aidshilfe Reutlingen/Tübingen organisiert deshalb am Samstag diverse Veranstaltungen und Infostände. Von 10 bis 14 Uhr stehen Mitarbeiter der Aidshilfe in Reutlingen am Spitalhof Rede und Antwort. Von 10 bis 15 Uhr sind sie mit einem Info- und Sammelstand am Nonnenmarkt. Darüber hinaus gibt es morgen auf dem Tübinger Sternplatz ab 18 Uhr eine Gedenkveranstaltung für die an HIV/Aids-Verstorbenen. Und am Sonntag, 2. Dezember, gibt es in der Marienkirche ab 18 Uhr ein Gospelkonzert. Der Eintritt ist frei, um Spenden wird gebeten. (GEA/dpa)