REUTLINGEN. Alle Menschen in Deutschland sind krankenversichert - meint man jedenfalls. Die Realität ist aber, dass mindestens 61.000 Personen unzureichend versichert sind. Die genauen Zahlen sind nur schwer zu erfassen, da die Betroffenen erst im Notfall bemerkt werden. Scham oder Unwissenheit sind häufig Gründe, warum Menschen ohne Krankenversicherung lange keine Hilfe suchen. Um sie zu unterstützen, enstanden im Februar zehn sogenannte Clearingstellen in Baden-Württemberg, darunter eine für Reutlingen und Tübingen. Dort berät die Organisation »Baden-Württembergischer Anonymer Behandlungsschein« (BaWABS) anonym und kostenlos Bürger aus dem Landkreis mit fehlender Krankenversicherung. Seit September wissen die Verantwortlichen, dass es für ihr Projekt nicht weitergeht. Zum Jahresende müssen alle zehn Anlaufstellen im Bundesland ihre Arbeit einstellen. Das Land streicht BaWABS die finanziellen Mittel.
»Dann geht es erstmal nicht um die Krankenversicherung, sondern um die Scheidung oder verlorene Wohnung.«
Projektkoordinatorin Selina Seitz-Schnabel ist erschüttert: »Die Menschen werden wieder allein gelassen.« In Reutlingen und Tübingen wandten sich bisher 27 Personen an die Clearingstelle, weiteren 22 half man über »kollegiale Fachberatungen« mit Sozialarbeitern, die auf die Leidtragenden gestoßen waren. Dass die Clearingstellen nur ein Jahr bestanden, enttäuscht sie, »weil das alles schon einen langfristigen Sinn hatte. Wenn jemand als Notfall ins Krankenhaus kommt und nicht versichert ist, muss das Krankenhaus zahlen. Das hilft nicht, wenn Krankenhäuser ohnehin schon ungenügend Budget haben.«
Doch wie kommt es so weit, dass diese Menschen nicht krankenversichert sind? »Der häufigste Grund ist, dass die Beiträge aus der gesetzlich freiwilligen Versicherung nicht gezahlt werden«, erzählt Patricia Schulmann. Sie ist als Sozialarbeiterin oft der erste Kontakt für Bürger, die sich an die Organisation wenden. »Da frag' ich immer, was überhaupt los ist, und dann geht es erstmal nicht um die Krankenversicherung, sondern um die Scheidung oder verlorene Wohnung.« Gemeinsam mit den Betroffenen arbeitet sie dann den Fall in mehreren Gesprächen Stück für Stück auf. Dazu gehört, eine Lösung für die finanzielle Notlage zu finden, aber auch »den Rücken der Betroffenen zu stärken.« Eine der größten Hürden sei für viele der Gang zum Amt, weil sie da bereits abgewiesen wurden. Dabei sind die Sozialversicherungsträger gesetzlich verpflichtet, Auskunft zu geben.
»Saisonarbeiter oder Küchenhilfen können die Beiträge nicht mehr zahlen.«
Wer sich die freiwillige Versicherung nicht mehr leisten kann, ist zwar grundsätzlich noch Mitglied, wird aber nur in akuten Fällen behandelt. Ein Problem für Arbeiter ohne gesichertes Einkommen: »Leute wie Saisonarbeiter oder Küchenhilfen können die Beiträge dann nicht mehr zahlen«, erklärt Projektkoordinatorin Seitz-Schnabel. Dabei sind das nicht die einzigen Gründe für die fehlende Krankenversicherung. Oft handle es sich auch um privat versicherte Menschen über 55 Jahren. Sie können die Kosten nicht mehr stemmen und nicht in die gesetzliche Krankenversicherung zurückwechseln. »Diese Personen werden älter und anfälliger, aber der Beitragssatz steigt ja auch mit der schwierigeren Lage«, bedauert Patricia Schulmann. Außerdem seien immer wieder Migranten betroffen. Sie besitzen zwar eine Europäische Krankenversicherungskarte (EHIC), die Schmerzzustände und akute Behandlungen abdeckt, aber für härtere Fälle wie chronische Krankheiten nicht greift. Stattdessen müsse man ausreichend im Herkunftsland versichert sein. Wenn das nicht möglich ist, bleibt nur noch eine Auslandskrankenversicherung: »zu teuer für viele dieser Menschen«, sagt Schulmann.
»Jeder hat ein lebenswertes Leben verdient.«
Die genauen Gründe für die Schließung der Clearingstellen kennen die Helfer von BaWABS nicht. Seitz-Schnabel berichtet, das Ministerium für Integration, Bildung und Soziales hätte für ein Bestehen gekämpft - ohne Erfolg. Aufgeben will sie jedoch noch nicht: »Wir versuchen kommunal eine Anlaufstelle in Reutlingen oder Tübingen zu verankern.« Wäre nicht einmal das möglich, gelte es für alle Beteiligten, ihre Kenntnisse weiterzugeben. In Workshops unterrichten sie alles Wissenswerte über Krankenversicherungen und Möglichkeiten, die Menschen zu unterstützen. Bis zum Ende des Jahres werde man nochmal alles für die Betroffenen tun, »denn jeder hat ein lebenswertes Leben verdient«, sagt Seitz-Schnabel. Sie und Patricia Schulmann hoffen, »mehr Menschen auf das Thema aufmerksam und bewusst zu machen, dass alles nicht so einfach ist, wie man denkt.« Junge Leute sollen sich rechtzeitig um ihre Krankenversicherung kümmern, sobald sie aus der Familienversicherung fallen und »genau überlegen, ob sie sich privat versichern wollen. Denn man weiß nie, was kommt«, empfiehlt Schulmann. Für alle gilt, »immer die Briefe zu lesen und nie Angst haben, nach Hilfe zu fragen.« (GEA)