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Aktuell INTERVIEW

Geschäftsführerin der Aidshilfe Tübingen/Reutlingen: »Ängste nehmen«

Brigitte Ströbele, Geschäftsführerin der Aidshilfe Tübingen/Reutlingen, zum Welt-Aids-Tag

Brigitte Ströbele, Geschäftsführerin der Aidshilfe Reutlingen/Tübingen, die mittlerweile eine Beratungsstelle für die sexuelle G
Brigitte Ströbele, Geschäftsführerin der Aidshilfe Reutlingen/Tübingen, die mittlerweile eine Beratungsstelle für die sexuelle Gesundheit ist. FOTO: LEISTER
Brigitte Ströbele, Geschäftsführerin der Aidshilfe Reutlingen/Tübingen, die mittlerweile eine Beratungsstelle für die sexuelle Gesundheit ist. FOTO: LEISTER

REUTLINGEN/TÜBINGEN. Anlässlich des Welt-Aids-Tags, der gestern begangen wurde, erklärt Brigitte Ströbele, die Geschäftsführerin der Aidshilfe Tübingen-Reutlingen, wie diesbezüglich die aktuelle Situation in der Region ist.

GEA: Das Thema Aids ist ein wenig aus dem Fokus gerückt, aber es ist doch nicht verschwunden, oder?

Brigitte Ströbele: Das wäre eine schöne Botschaft anlässlich des Welt-Aids-Tags, aber die können wir leider nicht verkünden. Aids gibt es noch immer, und in jedem Jahr infizieren sich etwa 2.000 Menschen in Deutschland neu mit dem HIV-Virus. Allerdings erkranken die wenigsten von ihnen später an Aids, sondern sie werden – sofern die Infektion entdeckt und medikamentös behandelt wird – alt damit. Es passiert aber immer noch, dass die Infektion nicht erkannt wird und die Menschen dann an Aids erkranken und im schlimmsten Fall daran sterben. Wir hatten 2023 zwei junge Menschen bei uns in der Betreuung, die tatsächlich an Aids verstorben sind.

Wie sieht’s generell in der Region aus?

Ströbele: In der Region Neckar-Alb leben einige Hundert Menschen mit HIV. Wenn sie nur mit dem HI-Virus infiziert und nicht zusätzlich noch psychisch sehr belastet sind, brauchen sie unsere Unterstützung im Alltag meist nur wegen des Schocks nach der Diagnose. Dann aber werden sie in der Regel medizinisch gut versorgt und kommen körperlich mit ihrer Infektion klar. Was nach wie vor allerdings nicht optimal läuft, ist, dass Menschen mit HIV ausgegrenzt und schlecht behandelt werden. Unsere Aufgabe ist es deshalb auch, beispielsweise den Menschen, die in der Pflege mit HIV-positiven Patienten zu tun haben, ihre Berührungsängste zu nehmen. Wir als Aidshilfe sind in der Region außerdem dafür zuständig, dass es bei den seit Jahren einigermaßen niedrig-stabilen Zahlen der Neuinfektionen mit HIV bleibt. Und das funktioniert nur über Prävention und Aufklärung. Konkret heißt das: Wir gehen in Schulen und erklären und zeigen den Jugendlichen, dass es den HI-Virus durchaus noch gibt, aber man sich gut schützen kann.

Früher und heute: Was hat sich verändert?

Ströbele: Ganz vereinfacht gesagt: In den 80er- bis Anfang der 90er-Jahre ist man mit großer Wahrscheinlichkeit an Aids gestorben und zwar sehr elend, heute kann man mit HIV alt werden – wenn man die Infektion feststellt und Medikamente nimmt. Die HIV-Medikamente sind im Laufe der letzten 20 Jahre sehr viel besser geworden. Sie sorgen sogar dafür, dass das Virus nicht mehr weitergegeben wird. Die HIV-Therapie ist also so sicher wie Safer Sex mit Kondomen. Für Menschen, die häufig wechselnde Sexpartner haben, kann es heutzutage sinnvoll sein, schon vorsorglich HIV-Medikamente zu nehmen, um sich beim Sex nicht anzustecken, auch wenn man kein Kondom benutzt. Die HIV-Therapie senkt die Viruslast auf fast null, und so ist eine Weitergabe des Virus nicht möglich. Das nennt sich PrEp – Präexpositionsprophylaxe – und wird bei Bedarf für sogenannte Risikogruppen auch von der Krankenkasse bezahlt.

Auch eure Leistungen sind umfassender geworden. Wie sehen sie aus?

Ströbele: Wir sind inzwischen eine Beratungsstelle für Fragen rund um die sexuelle Gesundheit. Jeden Montagnachmittag bieten wir in Tübingen und in Reutlingen nach Bedarf eine Schnelltest-Sprechstunde an. Da kann man sich auf HIV, Hepatitis C und Syphilis testen lassen. Da Diskriminierung von Menschen nach wir vor ein Thema ist, haben wir uns ganz groß auf die Fahnen geschrieben, dagegen anzugehen. Dazu gehört unserer Auffassung nach auch die strukturelle Prävention, also nicht nur das Verhalten, sondern auch die Verhältnisse zu verändern. Zum Beispiel haben die Aidshilfen erreicht, dass auch Homosexuelle inzwischen Blut spenden dürfen und dass Arbeitgeber nicht nach dem HIV-Status eines Bewerbers fragen dürfen.

Aber auch die Themen Drogen und Sexarbeit gehören zu unserem Leistungsspektrum: Weil wir schon seit den 80er-Jahren viel mit drogenabhängigen Menschen zu tun haben – das ist ein regionaler Schwerpunkt unserer Aidshilfe – verstehen wir uns auch als Interessensvertretung dieser eher an den Rand gedrängten Bevölkerungsgruppe. Deshalb verteilen wir beispielsweise kostenlos Safer-Use- Material, also Spritzen, Kanülen und anderes Zubehör, damit Neuinfektionen mit HIV oder Hepatitis C verhindert werden. Den Arbeitsbereich haben wir in den letzten Jahren ausgebaut, weil großer Bedarf besteht. Mit PROUT – unserer Beratungsstelle für Menschen, die der Sexarbeit nachgehen – konnten wir vor knapp zwei Jahren das Thema Prostitution endlich mehr auf den Schirm nehmen. Zwei Kolleginnen kümmern sich jetzt um dieses, durch die Corona-Pandemie noch dringlicher gewordene Thema.

Die Aidshilfe Reutlingen/Tübingen gibt es seit 1986. Sie sind seit 2011 dabei. Haben Sie jemals ans Aufhören gedacht?

Ströbele: Das habe ich tatsächlich noch nie! Ich gehe jeden Tag gerne zur Arbeit. Es ist eine bunte, vielfältige und eigentlich jeden Tag interessante Arbeit. Wir sind in der Aidshilfe Tübingen-Reutlingen ja nicht nur für die Themen HIV und damit zusammenhängend für die Aufklärung in Schulen, Prävention und für HIV-Testungen zuständig, sondern wir sind auch ein sozialer Dienstleister, der Menschen in besonderen Lebenslagen begleitet und unterstützt. Das sind meistens Menschen, die neben ihrer HIV- oder Hepatitis C- Infektion noch viel größere Baustellen haben: Das können Suchterkrankungen oder andere schwere psychische Belastungen sein. Das Aidshilfe-Team setzt sich zusammen aus sehr engagierten und motivierten Sozialarbeitern und Psychologen, die je nach Bedarf mehr als 50 Frauen und Männer unterschiedlich intensiv psychosozial im Alltag unterstützen und begleiten. Und weil das ein sehr nettes und toll zusammenarbeitendes Team ist, gefällt mir die Arbeit als Geschäftsführerin noch immer sehr gut, und ich empfinde sie als eine sinnvolle und sinnstiftende Arbeit.

»Ehrenamtlich engagierte Menschen zu finden, ist tatsächlich inzwischen nicht mehr so einfach«

 

Ist es schwer, Nachwuchs zu finden?

Ströbele: Für unseren Checkpoint und für Aktionen der Öffentlichkeitsarbeit wie Infostände oder Flyer-Verteil-Aktionen brauchen wir immer wieder neue Ehrenamtliche. Ehrenamtlich engagierte Menschen zu finden, ist tatsächlich inzwischen nicht mehr so einfach wie noch vor zehn Jahren. Das hat sicher unterschiedliche Gründe und hat wahrscheinlich auch mit der verkürzten Studienzeit im Bachelorstudium zu tun und vielleicht auch damit, dass HIV und Aids nicht mehr ganz oben auf der Liste der angesagten Themen stehen. Neue Fachkräfte wie Psychologen und Sozialarbeiter für unser hauptamtliches Team zu finden, ist dagegen gar nicht so schwierig: Wer sich bei der Aidshilfe bewirbt, weiß in der Regel, auf was er oder sie sich einlässt, bringt beispielsweise eine akzeptanzorientierte Haltung mit und ist Menschen mit anderen Lebenskonzepten gegenüber sehr aufgeschlossen und sucht gezielt eine Arbeitsstelle in diesem Umfeld. (GEA)

 

AIDSHILFE REUTLINGEN/TÜBINGEN

Aktivitäten im Dezember

Dienstag, 5. Dezember: Checkpoint in der Aidshilfe Tübingen, Herrenberger Straße 9, 18.30 bis 21.30 Uhr, Aktion: HIV-Schnelltests heute kostenlos. Samstag, 9. Dezember: LuSchT-Party – Der Nussknacker; queere Adventsparty im Schlachthaus, Tübingen, 22 Uhr. Montag, 18. Dezember: Weihnachtsfeier für Klientinnen und Klienten der Aidshilfe, Westspitze, Saal eins, Eisenbahnstraße 1; 18 Uhr. Außerdem: Infostände und Sammelaktionen an circa 40 Schulen in den Stadtgebieten und Landkreisen Tübingen und Reutlingen sowie im Zollernalb-Kreis sowie in der Tanzschule Tanzen und Spaß, Reutlingen und Aids-Teddy-Aktionen in verschiedenen Apotheken in der Region. (gea)