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Fahrradstraße: So läuft's an der Reutlinger Planie

Als »Meilenstein der Verkehrswende« in Reutlingen vor Wochen eingeweiht: Wie läuft’s an der Fuß- und Radachse Planie?

Groß und Klein strampeln gelassen über die Fahrradachse. Die Autos auf der Kaiserstraße brauchen nur kurz anhalten. Das friedlic
Groß und Klein strampeln gelassen über die Fahrradachse. Die Autos auf der Kaiserstraße brauchen nur kurz anhalten. Das friedliche Miteinander ist auffallend. Foto: Stephan Zenke
Groß und Klein strampeln gelassen über die Fahrradachse. Die Autos auf der Kaiserstraße brauchen nur kurz anhalten. Das friedliche Miteinander ist auffallend.
Foto: Stephan Zenke

REUTLINGEN. Stichprobe an einer Straßenkreuzung: Mal schauen, wie es Wochen nach ihrer Einweihung an der neuen Fuß- und Radachse Planie wirklich läuft. Beobachtet wird der von OB Thomas Keck als »Meilenstein der Verkehrswende« bezeichnete Verkehrsversuch am frühen Morgen sowie am späteren Nachmittag. Das Ergebnis ist ein Erlebnis.

Nass glänzen die blauen Linien der Fahrradachse an der Ecke zur Kaiserstraße an einem verregneten Morgen mitten in der Woche. Netterweise ist der Biergarten der Kaiserhalle als Beobachtungsposten überdacht. Zur Erinnerung wie es früher war: Vorfahrt für den Autoverkehr und eine Fußgängerampel. Jetzt ist die Ampel weg, dafür haben laufende und radelnde Menschen Vorfahrt. In der Dämmerung eilen viele junge Reutlinger in Richtung Begerschule oder Isolde-Kurz-Gymnasium. Alle Autos sind mit Scheinwerfer unterwegs. Manche jugendlichen Radler haben offenbar nicht begriffen, dass schwarze Klamotten plus kein Licht am Rad lebensgefährlich sind. Dennoch ist keine riskante Begegnung an der Kreuzung zu sehen, denn die meisten Autofahrer nehmen an der Kante zur Fahrradstraße Rücksicht. Ein Bild, was sich den ganzen Vormittag über in auffallender Weise wiederholt.

Hingucker und Hektiker

Der Hingucker am Lenkrad wird an der Kreuzung etwas langsamer, wandert mit einem Blick die Radachse auf und ab, hält aber nicht, falls er keinen Querverkehr wahrnimmt. Der Anhalter dagegen bringt sein Fahrzeug vollständig zum Stillstand, prüft gewissenhaft eine sichere freie Bahn, und fährt weiter. Der Hektiker macht alles auf einmal, dreht zügig den Hals in beide Richtungen, verlangsamt sein Automobil aber keinesfalls. Ähnliche Charakterköpfe gibt's natürlich auch beim radelnden Teil der Bevölkerung.

Verkehrsversuch für zwei Jahre

Mit dem Verkehrsversuch zur Umgestaltung eines Teils der Planie zur Fahrradstraße plant die Stadtverwaltung nach eigenen Angaben einen weiteren Baustein der Verkehrsberuhigung in der Reutlinger Oststadt umzusetzen. Hierfür werden laut Verwaltung »anhand des Verkehrsversuchs Fuß- und Radachse Planie wichtige Erkenntnisse für eine dauerhafte Umgestaltung in der Planie gewonnen.«

Um diesem »Wunsch aus Anträgen des Gemeinderats« nachzukommen und die deutlich schwächer befahrene Planie gegenüber der Kaiser- und Bismarckstraße zu bevorrechtigen, bedurfte es umfangreicher Maßnahmen zur Sicherung des Fuß- und Radverkehrs auf der Planie, die seit Ende August zu erleben sind.

Die Südseite der Planie wurde als bevorrechtigte Fahrradstraße von der Garten- bis zur Charlottenstraße umgestaltet und die Nordseite als Fußachse ausgewiesen. Die Fahrbahnbreite für Autos ist in den Kreuzungsbereichen auf 3,50 Meter reduziert. In der Kaiser- und Bismarckstraße sind die bestehenden Signalanlagen durch Fußgängerüberwege ersetzt und außer Betrieb genommen worden.

Die Verwaltung verspricht die Maßnahme zu begleiten und nach zwei Jahren umfassend zu evaluieren und dem Bau-, Verkehrs- und Umweltausschuss umfassend die Evaluationsergebnisse vorzulegen. Quelle: Mitteilungsvorlage der Stadt 23/048/02. (zen)

Unschwer zu erkennen, wer da frühmorgens aus der Oststadt in Richtung Stadtmitte unterwegs ist: Die Überzeugungsradler sitzen im Sattel von hochwertigen Pedelecs modernster Bauart – Mütter gerne mit Anhänger – und tragen sowohl grellbunte Funktionskleidung als auch ganz klar einen Sturzhelm. »Ich radele, also bin ich die Zukunft«, strahlen sie inklusive LED-Beleuchtung aus – und schauen wenn überhaupt nur ganz kurz auf die in ihren Blechbüchsen sitzenden Mitmenschen. Die versprochene Vorfahrt wird erwartet bis eingefordert.

Lässigkeit am Lenker

Andere strampeln mit einer gewissen Lässigkeit, haben nur eine Hand am Lenker, um mit der anderen partnerschaftlich in Richtung der Windschutzscheiben der Autofahrer zu winken. Diese Zweiradler schauen auch stets hin, ob da für sie angehalten wird – was zuverlässig der Fall ist. Bei immer heller werdendem Tageslicht entsteht das Bild eines erstaunlich friedlichen und verständnisvollen Miteinanders, von dem offenbar alle profitieren. Die Planie lockt als idyllisches Plätzchen im Herbst jetzt die ersten Kastaniensammler oder Hundebesitzer beim Gassi-Gang an. Von Anspannung ist auch bei den Fußgängern nichts zu sehen.

Vorfahrt für Fußgänger ohne Ampel funktioniert, und bringt auch den Menschen in ihren Blechkisten Zeitvorteile, denn die müssen
Vorfahrt für Fußgänger ohne Ampel funktioniert, und bringt auch den Menschen in ihren Blechkisten Zeitvorteile, denn die müssen nicht mehr aufs Grünlicht warten. Foto: Stephan Zenke
Vorfahrt für Fußgänger ohne Ampel funktioniert, und bringt auch den Menschen in ihren Blechkisten Zeitvorteile, denn die müssen nicht mehr aufs Grünlicht warten.
Foto: Stephan Zenke

Vor allem am Fußgängerüberweg zwischen den beiden Teilen der Planie sorgt der Wegfall einer Ampel für flüssiger fließenden Autoverkehr als vorher. Statt die ganze Rotphase abwarten zu müssen, können die Automobilisten direkt wieder weiterfahren, wenn die Passanten es von einer auf die andere Seite geschafft haben. Interessanterweise nehmen es die mit vier Rädern reisenden Menschen auch keinesfalls krumm, dass die Fußgänger der Einfachheit halber auch auf der anderen Seite der Planie direkt an der Fahrradachse die Kaiserstraße überqueren, obschon es dort keinen offiziellen Zebrastreifen gibt. Ebenso auffallend, dass dort die fürs Fahrrad gedachte Vorfahrt auch so manchem Chauffeur das Einfädeln in die Kaiserstraße erleichtert.

Etwa eine Stunde nach Schulbeginn biegt SPD-Gemeinderat Ramazan Selcuk auf dem Weg zur Arbeit an der Kaiserhalle um die Ecke. Was sagt er zur Lage? »Ich laufe hier immer wieder vorbei. Es wirkt. Die allermeisten Autofahrer halten. Für den Radverkehr ist es eine tolle Sache«, gibt er als Fußgänger zu Protokoll, »ich habe Rückmeldungen von Nachbarn bekommen, die Radfahrer sind, die das wirklich sehr gut finden, sich jetzt sicher fühlen«. Die »Autofahrerfraktion«, wenn es die denn gibt, habe sich bei ihm bislang nicht gemeldet. Vielleicht liegt das auch daran, dass es wenig zu meckern gibt. Jedenfalls herrscht so gegen 9 Uhr am Vormittag an der Kreuzung ein Gefühl von Frieden, Freude, Fahrradstraße. Gelegentlich ein paar Radler oder Fußgänger, die die wenigen Autofahrer kaum stören. An einem ebenso zufälligen Nachmittag unter der Woche ändert sich am Gesamtbild wenig.

Keinerlei Unfälle registriert

Gegen 16 Uhr, mithin zu einer der Hauptverkehrszeiten, wächst die Zahl der Fahrzeuge auf der Kaiserstraße, aber im Vergleich zu bisher nicht die Länge der Staus. Die Treppen des Denkmals für Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck sind ein gemütlicher Platz mit Blick auf die Details. Aha, eine Polizeistreife hält an der Fahrradstraße an – das muss wohl vorbildlich sein. Anruf im Polizeipräsidium einige hundert Meter weiter oben mit der Frage, ob denn die neue Verkehrsregelung seit Ende August irgendwie polizeilich aufgefallen sei. »Wir haben in dieser Zeit keinerlei Unfälle registriert«, sagt Pressesprecher Christian Wörner. Eitel Freude und Sonnenschein herrscht auch bei der Task-Force Radverkehr im Rathaus.

Bekannt geworden sei der Stadt lediglich »ein kleiner Rempler, wo ein Radfahrer alleine am Bordstein hängen geblieben ist«, sagt Daniel Scheu als Projektleiter der strampelnden Rathausgruppe. Rückmeldungen zur Planie habe die Stadt durchaus erhalten, »sehr ausgewogen zwischen Befürwortern und Gegnern des Verkehrsversuches«. Besonders positiv bewertet werde die abgeschaltete Fußgängerampel. Was Scheu betont, scheint wirklich zu klappen: »Es ist wichtig, dass wir ein Miteinander hinbekommen«. (GEA)