REUTLINGEN. Die Stufen knarzen, als wir uns morgens in dem alten Haus nach oben arbeiten. Die Wände sind schon ramponiert, vereinzelte Flecken zieren den Gang. Es riecht nach einer Mischung aus altem Holz und Nikotin. Die Türen, an denen wir vorbeilaufen, sind geschlossen. Bis auf die lauten, quietschenden Tritte, die die Stufen unter unseren Füßen fast an ihre Belastungsgrenze bringen, hört man nichts. Es ist still.
Wir kommen an im dritten Stock. Unter dem Dach ist ein kleiner Raum, eingerichtet mit zusammengeschobenen Tischen und mehreren Stühlen. Die Kaffeemaschine ächzt. Hier erzählt Jasmin Rentschler von ihrem Alltag. Die 37-Jährige ist Sozialarbeiterin bei der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Reutlingen und zuständig für das Aufnahmehaus für Männer. Ihre Arbeit mit den Bewohnern ist oft nicht einfach.
»Wir haben eine Doppelfunktion. Es ist viel Beziehungsarbeit, aber wir müssen auch Druck ausüben«, beschreibt sie. Die Männer, die hier im Haus wohnen, kommen aus den unterschiedlichsten Gründen auf die AWO zu. Obdachlosigkeit, Sucht, familiäre Probleme. Wenn sie dann den zur Schritt zur AWO gehen, beginnt Rentschlers Arbeit mit der Ersteinschätzung: »Man muss beurteilen, in was für einem Zustand sich der Mensch befindet. Und er muss Ziele definieren können.« Erst dann könne man mit ihm arbeiten.
Wohnraum ist knapp
Aufgenommen werden kann er aber nur, wenn die AWO Platz hat. Das ist ein Problem, das immer mehr zum Tragen kommt. »Wir brauchen mehr Wohnraum«, klagt sie. Das Männeraufnahmehaus in der Reutlinger Schenkendorfstraße bietet Platz für zwölf Bewohner. In der Lindachstraße gibt es zusätzliche zwei Betten. Aber das war es dann. »Der Trend zeigt leider deutlich nach oben. Immer mehr Männer brauchen Unterstützung.«
Dazu kommt, dass das Haus schon in die Jahre gekommen ist. Gebaut wurde es in den 30er-Jahren, dadurch seien immer wieder Reparaturen notwendig. »Das macht unsere eigentliche Arbeit natürlich schwieriger.« Viel Zeit sei nötig, um das Haus in Schuss zu halten, sagt die Sozialarbeiterin bei der Hausbegehung. In regelmäßigen Abständen werden diese durchgeführt, um zu sehen, was am Gebäude getan werden muss. Inzwischen hört man auch weitere Schritte in den Zimmern. Das Haus erwacht.
Wir gehen ein Stock tiefer in eine WG. Der Flur ist klein und schmal, die Küche aber offen, hell und freundlich. Es herrscht etwas Unordnung. Man sieht der Wohnung ihr Alter an. Macken im Boden, Löcher in der Wand. Ein Ofen funktioniert nicht mehr. Die ersten Bewohner kommen aus ihren Zimmern und sagen leise, aber freundlich »Guten Morgen«. Rentschler wird herzlicher begrüßt. Und sie geht direkt ins Gespräch mit den Männern, erkundigt sich nach ihrem Befinden, ob alles ok ist. Man merkt, dass sie Bezugspunkt für die Bewohner ist.
Respektvoller Umgang
Ob sie als Frau unter so vielen Männern manchmal Angst habe? »Nein, eigentlich nicht«, sagt sie. Außerdem werden die Begehungen im Haus immer zu zweit gemacht. Auch heute ist ein Praktikant dabei. Die Bewohner begegnen ihr alle respektvoll, erzählt sie. »Wobei ich bei manchen etwas vorsichtiger bin.« Vorgefallen sei noch nie etwas Schlimmeres. Man dürfe nie vergessen, sagt sie, »die Leute sind freiwillig bei uns«.
Ein Stock tiefer, die nächste WG. Im Vorraum steht ein Bettgestell an der Wand. Das sei ein gutes Beispiel, meint sie. Ein Bewohner habe es aus dem Zimmer, hier gegen die Wand gestellt und nicht weiter weggeräumt. Jetzt muss sie sich darum kümmern. Kein Beinbruch, aber zeitaufwendig.
Sie begrüßt, etwas überrascht, einen weiteren Bewohner. Er wohnt hier eigentlich gar nicht mehr, ist aber kurzerhand zurück gekommen. Da müsse man jetzt schauen, wie man das regelt. Im Keller zeigt sie die Waschküche. Die Waschmaschinen werden regelmäßig von den Bewohnern genutzt, die Münzautomaten dafür weniger. Diese werden immer wieder aufgebrochen oder mit einem Draht umgangen, erzählt sie. »Die Männer haben kaum Geld.« Erst kürzlich gab es im Keller einen Wasserschaden. Der Garten des Hauses ist dagegen groß und einladend. Es gibt gemütliche Gartenmöbel und sogar eine Boule-Bahn. Manche Bewohner pflanzen ihr eigenes Gemüse an. Oder Tabakpflanzen.
Zurück im Besprechungsraum warten zwei Bewohner, die sich bereit erklärt haben, aus ihrem Leben zu berichten. Was sie erzählen, bewegt. Persönliche Schicksalsschläge führten zu Obdachlosigkeit. Einer der beiden lebte jahrelang auf der Straße, reiste durch Deutschland und schlug sich durch. Gemeinsam haben beide, dass irgendwann der Punkt kam, an dem sie sagten: »So geht es nicht mehr weiter.« Die Überwindung, zur AWO zu gehen, sei groß gewesen. Noch größer aber die Dankbarkeit, dass es diese Einrichtung gibt, die als »Sprungbrett« für ihr neues Leben dienen soll.
Unterstützung mit den Behörden
Den restlichen Vormittag verbringt die Sozialarbeiterin im Besprechungsraum und wartet auf weitere Bewohner. In der freien Sprechstunde können die Männer mit allen Sorgen zu ihr kommen. Bis zum Mittag kommt niemand.
Am Nachmittag arbeitet Rentschler in ihrem Büro in der Bismarckstraße. »Die meiste Zeit bin ich hier und führe viele Klientengespräche.« Sie unterstützt sie beim Ausfüllen von Anträgen, bei der Kommunikation mit den Behörden und berät, wie die nächsten Schritte in Richtung eigenständiges Leben aussehen könnten. Denn: »Das Ziel ist es, die Menschen zu stabilisieren. Ziel ist die Verhinderung von Verschlimmerung.«
Dauerhafte Besserung ist aber alles andere als sicher. »Wir unterstützen die Menschen auch bei der Suche nach einem eigenen Zuhause. Aber unser Klientel findet im Wohnungsmarkt meist keine Wohnung.« Das lässt die Sozialarbeiterin nicht kalt. Denn sie weiß: »Man darf nie vergessen, dass jeder von uns an diesen Punkt gelangen kann.« (GEA)