REUTLINGEN. »Dass die Massenproteste im Frühjahr keine Eintagsfliegen waren«, das wollten die Organisatoren einer Demonstration gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Krieg und Sozialabbau am 1. Juni in Reutlingen zeigen. Das schien dem »Bündnis Gemeinsam & Solidarisch gegen Rechts Reutlingen und Tübingen« und den mehr als 50 Unterstützer-Organisationen aus der Region gelungen. Trotz des lange angekündigten Schlechtwetters hatten sich an jenem Samstag um 15.30 Uhr bei zunächst eher leichtem Tröpfeln schätzungsweise 1.200 bis 1.500 Menschen im Bürgerpark vor der Reutlinger Stadthalle eingefunden. Viele von ihnen mit Fahnen und Transparenten: »Die rechte Welle brechen«, »Für ein solidarisches Ländle«, »Warum ist es der Flüchtling, der dir Angst macht, und nicht die Nazis im Landtag?«, »Wegen Euch stehen wir hier im Regen« und »Keine Spätzle für Nazis«, stand da etwa zu lesen. Einen »großen Lichtblick« nannte es eine der Veranstalterinnen, dass es gelungen war, den Platz zu füllen, denn: Aufstehen »für eine lebendige antifaschistische Praxis« sollte man »nicht nur heute, sondern immer«.
Nach kurzer Einführung zogen die Jugendlichen, Erwachsenen, ältere Menschen und einige Kinder, zum Teil »Alle zusammen gegen den Faschismus« skandierend, in langer Schlange durch die Stadt - erst zur großen Kundgebung auf dem Marktplatz, dann die Obere Wilhelmstraße hoch bis zum Albtor- und Burgplatz, dann durch die Planie bis zur Einmündung in die Charlottenstraße, wo nochmal Redner vom begleitenden Lautsprecherwagen aus das Wort ergriffen. Und schließlich über die Karlstraße zum Echaz-Hafen, wo überdacht bei Essen und Musik noch Info-Stände, Sich-Vernetzen und gemütlicher Ausklang anstanden.
Sprecher von Verdi betonten ihren Kampf gegen die strukturelle Benachteiligung von Frauen, die letztlich zu Altersarmut führe. Kai Lamparter von der IG Metall erklärte, Flucht sei in der Tat ein Problem, »aber nicht die Menschen«, die Schutz suchten. Sondern »die Zustände, die dafür sorgen«, dass sie ihre Heimatländer verließen. Er mahnte, »dass wir eine Welt mit faschistischem Gedankengut nicht haben wollen«. Deshalb sei es wichtig, bei den anstehenden Kommunal- und Europawahlen demokratische Parteien zu wählen. »Keine Macht den Klimaleugnern und der reaktionären Politik«, forderte ein junger Sprecher von Fridays for Future. Um der AfD, die den Klimawandel leugne, die Stirn zu bieten, solle man am 9. Juni aber auf jeden Fall wählen gehen.
Die organisierte antifaschistische Bewegung in der Region kritisierte, die Folgen von »kapitalistischen Krisen« würden auf dem Rücken der »lohnabhängigen Klasse« abgewälzt, für Aufrüstung das Sozial- und Gesundheitswesen zusammengespart. »Die AfD fordert, die Ampel setzt um: auch das ist die rechte Welle.«
Zwei Sprecherinnen der Seebrücke Reutlingen und des Arbeitskreises Flucht und Asyl schilderten ihre Vision von einer Welt, »in der nicht Zufälle wie der Geburtsort oder der Pass darüber entscheiden, wo ein Mensch leben darf«. Ein Europa, das die Rechte aller Menschen schützt, sei möglich. Sie setzten auf »ein Europa der Solidarität, der unveräußerlichen Menschenrechte und des Rechts auf Asyl«. Und erhielten für die Forderung »man lässt keine Menschen ertrinken, Punkt« viel Applaus.
Eine »migrantische Antifaschistin aus Tübingen« appellierte an die »individuelle Verantwortung, rassistische Hetze nicht unbeantwortet zu lassen« im Betrieb, in der Schule, an der Uni oder zuhause. Auf ihre Forderung nach einem freien Palästina gab es Gegenrufe aus der Menge.
Die Polizei zeigte mit sieben Mannschaftswagen sowie Pkw, die den Zug begleiteten, Präsenz, spricht jedoch von »keinen berichtenswerten Vorkommnissen«. Dass etwa vor dem Busbahnhof Rauchbälle gezündet wurden, falle unter »Demonstrationsvielfalt«, sagte ein Sprecher auf Nachfrage. (GEA)
Weitere Veranstaltungen des Bündnisses
»Die AfD und die soziale Frage«, Vortrag des Hamburger Journalisten Sebastian Friedrich, am Mittwoch, 5. Juni, 19.30 Uhr, Gemeindehaus Lamm in Tübingen: Die Alternative für Deutschland hat sich fest etabliert, sitzt in fast allen Länderparlamenten, im Bundestag und hat gute Chancen, mehr Abgeordnete als 2019 in das Europaparlament zu senden. Wie ist dieser Aufstieg zu erklären und welche gesellschaftlichen Ursachen liegen ihm zugrunde? Von Strömungen und Strategien der AfD und vom Aufstieg der Rechten, eingeordnet in gesellschaftliche Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte.
»Wenn Rechte regieren und was man dagegen tun kann«, Bericht aus Österreich von Anne Rieger, einst zweite Bevollmächtigte der IG Metall Waiblingen, am Donnerstag, 13. Juni. 19.30 Uhr, Haus der Jugend in Reutlingen: Von 2017 bis Mitte 2019 war die rechte FPÖ Teil der österreichischen Regierung. Sie stellte sich als Verteidigerin der Interessen der arbeitenden Bevölkerung dar. Nachdem sich eine türkis-blaue Regierung aus ÖVP und FPÖ bildete, gab es ein böses Erwachen, das bedeutete für viele Österreicher längere Arbeitszeiten, weniger Geld, Unsicherheit bei Krankheit. Auch in Deutschland gehen rechtspopulistische Parteien mit scheinbar sozialen Forderungen auf Stimmenfang. Was bleibt von den sozialen Phrasen übrig? Wie kann Widerstand aussehen? Anne Rieger lebt heute in Österreich und ist dort im Gewerkschaftlichen Linksblock und der KPÖ aktiv. (GEA)