Logo
Aktuell Kundgebung

»Demokratie stärken«: Tausende bei Demo in Reutlingen

Tausende Menschen demonstrieren am Freitagnachmittag auf dem Reutlinger Marktplatz unter dem Motto »Menschenrechte verteidigen – Demokratie stärken!«

Fast kein Durchkommen mehr war auf dem Reutlinger Marktplatz bei der Kundgebung am Freitagabend. Foto: Frank Pieth
Fast kein Durchkommen mehr war auf dem Reutlinger Marktplatz bei der Kundgebung am Freitagabend.
Foto: Frank Pieth

REUTLINGEN. Deutlich über 5.000 Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder – den Veranstaltern zufolge 8.000 – haben am Freitag auf dem Reutlinger Marktplatz friedlich für Demokratie und gegen Rechtsextremismus demonstriert. Sie sind sie dem Aufruf einer Initiative um Grünen-Stadtrat Dr. Karsten Amann und der Vorsitzenden des Reutlinger Stadtjugendrings, Cathy Hammer, gefolgt. Ihr zufolge schlossen sich mehr als 90 Organisationen an: Mitglieder von Gewerkschaften und Kirchen, Parteien und Vereinen. Dabei sind viele Familien. Ladeninhaber wie Gastronomen aus der Fußgängerzone haben zwischen 17 und 18.30 Uhr ihre Geschäfte abgesperrt, um dabeisein zu können– ein breites Gesellschaftsspektrum, das unmissverständlich zum Ausdruck bringt: Grundrechte sind nicht verhandelbar. Im Folgenden ein paar Schlaglichter auf die Großkundgebung.

Disziplin

Obschon die Redebeiträge auf Höhe des Marktbrunnens schon (fast) nicht mehr zu verstehen sind, bleiben die Menschen diszipliniert – kein Drängeln, kein Schubsen, kein Schimpfen, sondern ruhiges Ausharren für Demokratie und Menschenrechte. Selbst immer wieder aufflammende Sprechchöre für »internationale Solidarität« und der aus den 1920er Jahren stammende italienische Schlachtruf »alerta antifascista!« einer Gruppe verstummen, sobald jemand von der kleinen Bühne aus spricht. Dann herrscht angesichts der vielen Menschen eine fast unwahrscheinlich anmutende, konzentrierte Stille.

Plakate

»Unser Land ist bunt und soll es auch bleiben«, »Kampf dem Faschismus«, »Herz statt Hetze«, »Menschenrechte statt rechte Gesinnung«, »Demokratie stärken!«, »Unsere Mama soll bei uns bleiben! Don’t deport our Mama! Love not hate« – diese und viele weitere Statements sind auf Transparenten und Plakaten zu lesen.

Langer Atem

Pastor i. R. Manfred Selle ist mit einer evangelisch-methodistischen Gruppe aus Pliezhausen gekommen. Alle hoffen, dass diese Demo keine Eintagsfliege darstellt: »Wir brauchen einen langen Atem.«

Masse mit Klasse

Für Ingrid Remmert »gibt es keine Alternative zur Demokratie und in Reutlingen keinen Platz für Nazis. Die vielen Demonstranten hier machen mir Mut. Diese Masse hat Klasse.«

Unbestreitbare Mehrheit

»Es ist das erste Mal, dass man tatsächlich sieht, wo die Mehrheiten sitzen«, meint OB Thomas Keck zu Bäckermeister Hubert Berger und Landrat Dr. Ulrich Fiedler. Das sei ganz wichtig.

Appell an die Vorstellungskraft

Cathy Hammer fordert zum Auftakt: »Stellt Euch mal vor, wie es in unserer Stadt aussehen würde, wenn diese umfassende Zusammenarbeit nicht mehr möglich wäre. Stellt Euch vor, wie es in unseren Schulklassen, Sportvereinen, Cafés, Restaurants und Spielplätzen aussehen würde, wenn die jüngst enthüllten, schockierenden Pläne von Massenausweisungen tatsächlich umgesetzt würden.«

Bunte Vielfalt

Ein »unfassbar starkes Zeichen« nennt Karsten Amann die riesige Menschenmenge, die sich auf dem Platz und in den Gassen für Grundgesetz und Menschenrechte vereint hat. »Wo andere Hass und Hetze verbreiten, zeigen wir unser Herz – so bunt und vielfältig wie die Stadt.«

Medienkritik

»Die Medien müssen sich fragen, ob es nötig ist, rechtsextremen Politikern eine Bühne zu bieten, auf der gebetsmühlenartig rechte Botschaften rausgehauen werden«, findet Adelheid Emminger. »Ich verlange kein Totschweigen, aber mehr Fingerspitzengefühl und Augenmaß.«

Starkes Bekenntnis

Als »Mensch, der die Geschichte kennt«, laufe es ihm angesichts der jüngsten Enthüllungen durch die Correctiv-Recherchen zur AfD »eiskalt den Rücken hinab«, gesteht OB Keck. Er stellt klar: »Wer Menschen, entsorgen’ will, der gehört nicht in deutsche Parlamente!« Und betont: »Wir sind nicht wehrlos.«

Klare Worte

Pfarrer Dr. Joachim Rückle entlarvt »völkische Ideologie, verpackt in Beamtensprech« als »billige Stimmungsmache«, die keines der Probleme lösen werde, die es zurzeit gebe. May Schäffer vom Bündnis gegen Rechts ruft zu »Solidarität statt Spaltung« auf. Dusan Vesenjak vom Integrationsrat fragt den »Teil der Bevölkerung, der mit dem nationalsozialistischen Feuer spielt«: »Seid Ihr wahnsinnig? Wo ist Eure Menschlichkeit?« Applaus. Florentina, Liv und Soraya vom Jugendtheater Patati-Patata zitieren das Grundgesetz mit dem Hinweis »Das ist Demokratie!«.

Deutliche Zahlen

Hubert Berger betont: »Von 110 Mitarbeitern der Biobäckerei haben 55 nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Ohne diese Mitarbeiter würde es uns nicht mehr geben. Wir sind darauf angewiesen, dass sich unser Land offen und tolerant zeigt!«

Nicht länger zuschauen

»Es wird oft betont«, so Patrick Wagner, »dass Demokratie strapazierfähig sein und einiges aushalten muss – aber ganz gewiss keinen Björn Höcke und dessen Vasallen. Wie lange wollen wir noch zuschauen, wie Grundrechte mit Springerstiefeln getreten werden?« Zum Schluss singen Tausende Kehlen einmütig alle sieben Strophen von »We Shall Overcome«.(GEA)