REUTLINGEN. Eine Plastikflasche mit einem durchsichtigen Getränk stand während der Verhandlung vor dem 42-jährigen Angeklagten, dem unter anderem der Umgang mit gestohlenen Pedelecs zur Last gelegt wird. Immer wieder nahm er einen Schluck, zunächst dachte sich niemand etwas dabei. Doch dann wurde das Verhalten des Beschuldigten immer auffälliger, sein Ton lauter und unbeherrschter. Er pflaumte seine Verteidigerin und die Dolmetscherin an. Da keimte der Verdacht auf, dass in der Flasche wohl etwas anderes als Wasser war und für Richter Eberhard Hausch stand fest: »So können wir unmöglich verhandeln«. Der Angeklagte sei zwar körperlich anwesend, aber eben doch nicht da. Die Messung des Blutalkoholwerts ergab stolze 3,6 Promille – Richter Hausch unterbrach die Verhandlung und ließ den Angeklagten kurzfristig verhaften, »um ihn trockenzulegen«.
Mit 3,6 Promille vor Gericht
Alkohol vor Gericht? Das komme durchaus immer wieder vor, erzählt Eberhard Hausch, etwa bei Zeugen oder Angeklagten aus einem entsprechenden Milieu. »Dass jemand besoffen kommt, das gibt es öfter, aber dass jemand während der Verhandlung weitertrinkt – das hatte ich noch nicht.« Ein Ende der Kuriositäten war damit aber noch lange nicht erreicht: Denn es war gar nicht so einfach, eine Justizvollzugsanstalt für den Angeklagten zu finden. Rottenburg nimmt nur bis 3,5 Promille auf, zudem ist die medizinische Betreuung dort nur eingeschränkt möglich. Schließlich erklärte sich das Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg bereit, den Mann zu behandeln. Und ihn dann sogar länger als von Richter Hausch erwartet, zu behalten. »Vor zehn Tagen war nicht mit ihm zu rechnen«, erklärt der Richter, denn der Alkohol müsse nicht nur komplett aus den Organen, sondern auch der Kopf müsse frei werden.

So mussten die Verfahrensbeteiligten zehn Tage warten, bis es in die nächste Runde ging. Doch eine andere Möglichkeit gab es nicht. »Er ist unausstehlich, wenn er betrunken ist«, fasst es Richter Hausch zusammen. Eine Einschätzung, die auch mehrere aussagende Polizeibeamtinnen und -beamte in ihren Aussagen bestätigten. Denn der Angeklagte ist sowohl in mehreren Polizeirevieren der Region als auch in diversen Gerichten alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Die Liste mit Voreintragungen und Verurteilungen ist lang und breit gefächert. Trunkenheit im Straßenverkehr, Diebstahl, Hausfriedensbruch, Beleidigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und anderes mehr verlas der Richter.
Angeklagter verweigert Angebot des Gerichts
Gegen eine Verurteilung des Amtsgerichts Nürtingen hat der Angeklagte Berufung eingelegt, Richter Hausch legt ihm nahe, diese zurückzunehmen, dann könnten die Fälle, die nun vor dem Reutlinger Gericht verhandelt werden, im Gesamtpaket in Nürtingen abgehandelt werden. Ein Vorschlag, auf den sich der Angeklagte nicht einlassen wollte. Richter Hausch unterbrach die Verhandlung zweimal, wirkte auf den Beschuldigten und seine Anwältin ein, es anzunehmen. »Ich winke hier nicht nur mit dem Zaunpfahl, ich schwenke einen ganzen Gartenzaun«, wurde er deutlich. Doch ohne Erfolg.
So muss nun das komplette juristische Register gezogen werden: Etliche Zeugen werden vernommen, ein psychiatrischer Gutachter wird beauftragt, und eventuell kommen noch weitere Vorfälle ans Licht, die bisher nicht angeklagt sind. In der Sitzung am Montag ging es zunächst um eine Fahrt auf dem Fahrrad in betrunkenem Zustand und den Besitz eines Pedelecs, das gestohlen worden war. Er habe es für 500 Euro auf einem Flohmarkt gekauft, erklärte der Angeklagte zu diesem Anklagepunkt. Dies war jedoch nicht das erste Mal der Fall, bereits früher habe er Pedelecs besessen, die gestohlen waren und die er angeblich gekauft hat. Da kamen dann doch Zweifel auf, zumindest nehme man billigend in Kauf, dass es sich um Diebesgut handeln könne, wenn man auf dem Flohmarkt ein hochwertiges E-Bike zum Schleuderpreis erstehe, verdeutlichte Richter Hausch. Was Hehlerei wäre.
Keine Kasse zahlt den Entzug
Ursächlich für die meisten Taten ist offenbar die Alkoholabhängigkeit des Angeklagten. Doch da er tunesischer Asylbewerber ist, übernimmt niemand die Kosten für eine Entziehungskur – weder die Kranken- noch die Rentenkasse. Er bekommt nur eine ärztliche Notversorgung. Eventuell wird er vom Gericht in einer Entziehungsanstalt untergebracht – und der Aufenthalt könnte länger gehen als die Haftstrafe. Doch erst einmal wird am 9. Oktober weiterverhandelt – zur Not auch ohne Anwesenheit des Angeklagten, wie Richter Hausch gleich klarstellte. Falls der wieder einmal nicht anwesend sein sollte. (GEA)