REUTLINGEN/TÜBINGEN. An etwa 160 Standorten im Landkreis Reutlingen stehen Altkleidercontainer, allein 60 solcher Standorte gibt es in der Stadt Reutlingen. Im Kreis Tübingen sind es 128 Standorte. An vielen sind sogar mehrere Container für Altkleidung aufgestellt. Doch selbst diese Anzahl scheint nicht auszureichen: Nahezu überall dasselbe Bild: Selbst die größten Container quellen über. Kleidungsstücke, Stofffetzen, Textilien aller Art liegen außenhalb oder in der Gegend verstreut.
Schuld daran: Fast Fashion und Ultra Fast Fashion: »Fast Fashion sind die billigen Klamotten beispielsweise von Kik, New Yorker oder Primark. Ultra Fast Fashion flutet gerade den Markt über die Internetplattformen Temu oder Shein mit Billigprodukten«, erklärt Kai Nebel von der Fachhochschule Reutlingen. Der Forschungsschwerpunkt des Diplom-Ingenieurs: Nachhaltigkeit und Recycling. Er sagt: »So wie diese schnelle Mode die Altkleidersammlungen beeinflusst, kann es nicht weitergehen«, denn Fast Fashion bringe ein bislang funktionierendes System an den Rand des Scheiterns.
»Ultra Fast Fashion flutet gerade den Markt über die Internetplattformen Temu oder Shein mit Billigprodukten«
Die Menschen in Deutschland kaufen sich laut Verbraucherschutzministerium pro Jahr etwa 60 Kleidungsstücke. Die Tendenz ist stark steigend. Doch bis zu 40 Prozent dieser neu gekauften Hosen, T-Shirts, Jacken oder Kleider werden demnach kaum oder überhaupt nicht getragen. Viele Klamotten landen in den Altkleidercontainern, ohne dass sie je ein Mensch am Körper getragen hat. Auch in Reutlingen, in Metzingen, in Trochtelfingen, oder in Tübingen nimmt dieser Trend zu. Fast Fashion verstärkt das noch und die weltweite Kleidungsproduktion wächst laut Ministerium zudem exzessiv. Das bedeutet: Es kommt immer mehr Fast Fashion auf den Markt.
Der Berg an Altkleidern dürfte auch in der Region immer höher wachsen, ist aber in großen Teilen nicht verwertbar. Kai Nebel: »Alte Fast Fashion ist in der Regel zu nichts mehr zu gebrauchen. Selbst Putzlappen kann man daraus nicht machen, weil die Klamotten meist aus Kunstfasern bestehen, die nicht saugfähig sind, was Putzlumpen ja sein sollen. Oft sind auch noch Paletten dran, Kunstfell oder neuerdings auch Fell von echten Marderhunden.« Den gemeinnützigen Sammlern, wie dem DRK, bereitet es existenzielle Probleme, dass die alten Fetzen nicht mehr verwertbar sind. Sie bringen im Altkleidergeschäft nichts ein und verstopfen das Geschäft. Ein wichtiger Baustein des finanziellen Fundaments bröckelt nicht nur dem DRK weg, auch andere Hilfsorganisationen, die ihr Dasein durch die Altkleidersammlungen mitfinanzieren, leiden unter der Entwicklung.
Auch Firmen, die ihr Geschäftsmodell auf die Verwertung von Altkleidung aufbauen, sind betroffen, wie beispielsweise Striebel-Textil in Langenenslingen im Kreis Biberach. Beim Platzhirsch der Branche landet sehr viel Altkleidung aus den Sammlungen des DRK Reutlingen oder Pfullingen. »Wir verarbeiten täglich 35 Tonnen Kleidung. Leider ist zu viel minderwertige Fast Fashion darunter«, heißt es vom Recycling-Unternehmen, das auch einen eigenen Second-Hand-Laden betreibt. Geschäftsführer Simon Striebel: »Der Anteil an nicht verwertbarem Material durch Fast-Fashion-Textilien wird immer größer und hat zur bedeutendsten Krise seit Bestehen der Branche geführt. Tatsächlich steht die Altkleidersammlung, wie wir sie kennen, vor dem Kollaps.«
Die Europäische Union will gegensteuern. Ihr Ziel: Bis 2030 sollen alle neuen Textilien langlebig, reparierbar und recyclingfähig sein. Kleidung soll keine gefährlichen oder gesundheitsschädlichen Stoffe enthalten und unter Einhaltung sozialer Rechte hergestellt werden. Soweit die Zukunftsvision, genannt EU-Textilstrategie.
»Fast-Fashion hat zur bedeutendsten Krise seit Bestehen der Branche geführt«
Doch damit das funktioniert und der Altkleider- und Second-Hand-Wirtschaft nicht tatsächlich einen Kollaps erleidet, müssen die Verbraucher mitmachen. »Wir müssen uns alle an die eigene Nase fassen«, sagt Textilexperte Kai Nebel und wird konkret: »Wir müssen Textilien von Qualität kaufen. Möglichst von heimischen Herstellern wie zum Beispiel Trigema, Mey oder Conzelmann. Das stärkt die regionale Wirtschaft und sichert Arbeitsplätze hier bei uns.« Außerdem sollte Kleidung möglichst lange getragen und später über Second-Hand-Plattformen weiterverkauft oder in die Altkleidersammlung gegeben werden. Kaputte Textilien oder Schuhe sollten beim Schneider und beim Schuster repariert werden. Textilien in den Restmüll zu geben, dürfe nur die allerletzte Möglichkeit bleiben, so Nebel.

»Wir werden nicht kontrollieren, ob Textilmaterial in den Restmülltonen steckt«, versichert Matthias Kuster, stellvertretender Leiter der Technischen Betriebsdienste Reutlingen (TBR). Mittelfristig arbeitet die TBR allerdings schon an einem Entsorgungssystem für alle nicht mehr verwertbare Textilien. Der Inhalt von Altkleidercontainern könnte künftig nach der Leerung zunächst in verwertbare und »Schrott-Textilien« getrennt werden. Denn, so Kuster: »Es ist besser, dieses Material an Recycling-Unternehmen zu geben, die daraus wenigstens sogenannten Ersatzbrennstoff machen, als es zur Müllverbrennung zu bringen.« Wie genau das Entsorgungskonzept greifen soll, wird noch ausgearbeitet. Die TBR setzen dabei auch auf den Wertstoffhof am Reutlinger Schinderteich. »Da können die Leute ihre Altkleidung hinbringen und unsere Mitarbeiter wissen, welche Textilien wiederverwertbar sind und welche nur noch zu Ersatzbrennstoff taugen. Dort kann dann sauber getrennt werden«, so Kuster.
Für die Haushalte in der Region Neckar-Alb bedeutet das laut Textilexperte Kai Nebel: Ein gewissenhafter Umgang mit der eigenen Kleidung ist wichtiger denn je. Nicht jedem Modetrend sollte hinterher gehechelt werden und Fast Fashion müsse unbedingt gemieden werden. Denn der Preis für die »Fünf-Euro-Bluse« ist in Wirklichkeit viel höher. (GEA)
Was ist Fast Fashion?
Fast Fashion, übersetzt schnelle Mode, ist ein weiter wachsender Trend. Schnell produziert, schnell gekauft, schnell vergessen, könnte die Zusammenfassung sein. Hinzu kommen niedrige Preise und schnell wechselnde Modelle. Meist in Billiglohnländern hergestellt, festigt Fast Fashion nicht nur die soziale Ungleichheit für die Näherinnen und Näher in den Herstellerländern, sondern belastet die Umwelt dort und nahezu überall. Ultra Fast Fashion ist die Steigerung dieser Strategie und wird über Internetplattformen wie Temu oder Shein vertrieben. (rr)