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20 Jahre Reutlinger Tafel: Segensreich und doch ein Makel

Reutlinger Tafel begeht 20. Geburtstag am Standort im ehemaligen Bürgerspital mit zahlreichen Gästen

Karin Schenk berichtet den Abgeordneten Ramazan Selcuk (von links) und Jessica Tatti sowie Stadtrat Karsten Amann von der Arbeit
Karin Schenk berichtet den Abgeordneten Ramazan Selcuk (von links) und Jessica Tatti sowie Stadtrat Karsten Amann von der Arbeit im Tafelladen. FOTO: LEISTER
Karin Schenk berichtet den Abgeordneten Ramazan Selcuk (von links) und Jessica Tatti sowie Stadtrat Karsten Amann von der Arbeit im Tafelladen. FOTO: LEISTER

REUTLINGEN. Die Hemmschwelle, in die Reutlinger Tafel zum Einkaufen zu gehen, ist hoch. Sehr hoch, wie Simone F. (Name geändert) am Samstag bei der kleinen Feier zum 20-jährigen Bestehen der Einrichtung betonte. Sie kämpfte mit den Tränen, weil sie die Situation so ungerecht empfindet: »Ich bin alleinerziehend, habe drei Söhne und zwei Jobs.« Dennoch verdient sie zu wenig, um ihre Kinder über die Runden zu bringen. Aus dem Fernsehen habe sie über die Tafeln erfahren, »ich kannte die nicht, beim Jobcenter hat mir auch niemand was gesagt«. Das erste Mal in die Reutlinger Tafel zu gehen, sei für sie ganz schlimm gewesen – und auch jetzt hat Simone F. noch Probleme damit, obwohl die Mitarbeiter dort sehr nett seien und die Lebensmittel extrem günstig.

War der 20. Geburtstag der Reutlinger Tafel am Samstag also ein Grund zum Feiern? Oder eher ein Anlass, um zu beklagen, dass es viel zu viele und immer noch mehr Menschen in diesem reichen Land gibt, die sich das Einkaufen von Lebensmitteln in »ganz normalen« Läden nicht leisten können? Beides, waren sich Dr. Karsten Amann, der als Mitglied des Gemeinderates in Vertretung von Oberbürgermeister Thomas Keck dabei war, und Dekan Marcus Keinath einig: »Bei uns herrscht Armut im Reichtum und Mangel im Überfluss«, sagte Amann. Die Tafel schaffe es allerdings, eine Brücke zu schlagen – und zudem Lebensmittel zu retten, die ansonsten im Müll landen würden. »Die Überproduktion und Verschwendung von Lebensmitteln ist Wahnsinn in unserer Gesellschaft«, so Karsten Amann. Gabriele Beier signalisierte als ehrenamtliche Vorsitzende des Reutlinger Diakonieverbands Zustimmung: »Es geht hier auch darum, die Schöpfung zu bewahren.«

Keinath stimmte zu: »Eigentlich sollte es solche Einrichtungen wie die Tafeln in Deutschland nicht geben – es müsste doch für alle Menschen möglich sein, zu normalen Preisen einkaufen zu können.« Das sei »ein Makel unserer Gesellschaft«. Aber: Die Reutlingen Tafel sei auch ein »wundervoller Ort der Begegnung«. Denn die 65 Ehrenamtlichen, die sich zusammen mit den beiden Hauptamtlichen Gisela Braun und Karin Schenk die tägliche Arbeit der Tafel teilen, »tun dies aus gelebter Nächstenliebe«, so der Dekan.

Große Dunkelziffer

Dem stimmte wiederum Norbert Lorenz als ehrenamtlicher Fahrer zu: »Meine Motivation ist es, Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu helfen – und Lebensmittel zu retten.« Monika Ressmann aus dem ehrenamtlichen Leitungsteam betonte: »Ich wünsche mir für die Zukunft, dass wir weiter so mit Ware beliefert werden.« Und als Träger wünschte sich der Geschäftsführer des Diakonieverbands Dr. Joachim Rückle von der Stadt noch etwas anderes: »Wir hätten gerne ein elektrisches Fahrzeug, um die Waren abzuholen.« Um die Nachhaltigkeit noch weiter voranzutreiben, »wäre eine Fotovoltaikanlage auf dem Dach der Tafel schön«, gab Rückle Karsten Amann mit auf den Weg ins Rathaus.

Karin Schenk berichtetet, dass in Reutlingen 545 Familien und Alleinstehende eine Berechtigungskarte zum Einkauf in der Tafel haben und dahinter rund 1 330 Menschen stehen, darunter 520 Kinder. »Aber es gibt eine große Dunkelziffer, vor allem ältere Frauen trauen sich nicht, in der Tafel einzukaufen«, sagte Gisela Braun. Beate Müller-Gemmeke bestätigte das: »Es gibt ein großes Problem mit der verdeckten Armut.« Einig war sich die Grünen-Bundestagsabgeordnete mit ihrer Kollegin Jessica Tatti (Linke): »Es ist gut, dass es die Tafeln gibt.« Aber, so Tatti: »Es ist die Aufgabe der Politik, endlich gegen Armut vorzugehen.« Die Sozialleistungen seien zu knapp bemessen und das Rentenniveau sinke. Und die Mieten steigen immer weiter an, so der SPD-Landtagsabgeordneten Ramazan Selcuk.

Ohne die Lebensmittelgaben von Supermärkten, Discountern, Bäckereien und anderen Spendern wäre die Arbeit der Tafeln gar nicht möglich: Liane und Ingolf Kasch haben einen Hofladen und geben immer wieder Eier, Geflügel und Kartoffeln, »aus christlicher Motivation«, wie sie selbst betonten. Susanne Erb-Weber sagte, dass die Bempflinger Bäckerei Veit täglich bis zu 50 Kilogramm Backwaren an die Tafeln in Reutlingen, Bad Urach, Metzingen und Nürtingen liefert. »Wir geben gern, versuchen unsere Überschussmengen aber auch zu reduzieren«, so die Marketingleiterin. »Was wir immer brauchen, sind Mitarbeiter – und hier in der Tafel kaufen vielleicht Menschen ein, die einen Job suchen«, so Erb-Weber.

Sandra Luik zählt mit den Metzinger Weightwatchers ebenfalls zu den Lebensmittelgebern: »Die Kursteilnehmer geben jedes Jahr die Kilos, die sie abgenommen haben, als Spende«. Das Ziel liege in diesem Jahr bei 2 200 Kilogramm. (GEA)

 

DIE REUTLINGER TAFEL IN ZAHLEN

Wöchentlich werden 800 Kisten Lebensmittel vor dem Müll gerettet

Die tägliche Zahl der Kunden beträgt in der Reutlinger Tafel durchschnittlich an die 70. Insgesamt versorgt die Tafel rund 1 330 Menschen in Reutlingen, darunter mehr als 500 Kinder und etwa 170 Menschen, die über 70 Jahre alt sind.

In der Tafel engagieren sich 65 Ehrenamtliche, darunter 22 Fahrer. Insgesamt leisten die Freiwilligen pro Jahr rund 14 000 Stunden ehrenamtliche Arbeit. Die Anzahl der Läden, die von der Tafel angefahren werden, beträgt etwa 30. Wöchentlich werden an die 800 Kisten Lebensmittel abgeholt. Pro Jahr sind das rund 800 Tonnen Lebensmittel, die ansonsten im Müll landen würden. (nol)