REUTLINGEN. Einfühlsam und packend zeichnet der Spielfilm »The Impossible« den Tag nach, als 2004 der hunderttausendfache Tod über Urlaubsparadiese in Südostasien hereinbrach. Naomi Watts, Ewan McGregor und der 14-jährige Tom Holland verkörpern darin eine Familie, die durch die Tsunami-Katastrophe auseinandergerissen wird. Der Film basiert auf den Erlebnissen der spanischen Familie Belón, die das heftigste Seebeben der Geschichte knapp überlebt und sich durchs Wirrwarr der darauffolgenden Tage kämpft.
Auch in der Region hat der Tsunami, der am 26. Dezember 2004 mehr als 230.000 Todesopfer forderte, Spuren hinterlassen. Dass in Küstenregionen von 14 Ländern - allen voran Indonesien, Sri Lanka, Indien und Thailand -, bis zum 50 Meter hohe Flutwellen verheerende Verwüstungen angerichtet hatten, schlug sich selbst im GEA-Lokalteil nieder. Zum 20. Jahrestag stöbern wir im Archiv: Zu den 539 getöteten Deutschen gehören auch Urlauber aus der Region. Überlebende aus Reutlingen, Tübingen und Metzingen berichten vom erlebten Grauen. Viel mehr geht es in den Wochen, Monaten und Jahren darauf aber um die große Hilfsbereitschaft, die zum Teil bis heute anhält.
Trauer und Hilfe
Januar 2005: »Zu essen bekommen die Leute, das klappt.« Die Riedericherin Sandra Alle vom unverzüglich gegründeten Förderverein »Zuflucht für Kinder in Sri Lanka« berichtet von der Lage vor Ort. Nun brauche es Küchen-Utensilien. Das weiß sie von Verwandten und einheimischen Helfern in dem Inselstaat. Auch die Gemeinde setzt Hebel in Bewegung, um jenen, die nach dem Beben der Stärke 9,1 auf der Richter-Skala alles verloren haben, »dauerhafte Hilfe« und »Perspektive« zu bieten. Über eine - heute inaktive - Website und Benefiz-Veranstaltungen sammeln sie Spenden. Der Gemeinderat von Metzingen, die dortige gewerbliche Schule und der Landkreis Reutlingen beschließen, ein Hilfsprojekt für Sri Lanka fünf Jahre lang mit jeweils 10.000 Euro zu unterstützen.
Februar 2005: Zwei Ofterdinger sind nach vier Wochen im Süden Sri Lankas zurück in der Heimat. Mit dem Technischen Hilfswerk (THW) bereiteten sie dort Trinkwasser auf für die Menschen rund um Galle im Südwesten der Insel. Der Reutlinger Dieter Bögel plant in Sri Lanka den Bau einer Siedlung für Waisen und Obdachlose. 120.000 Euro braucht er dafür. Nach zwei Wochen vor Ort im Katastrophengebiet für den Hechinger Verein »Kinder brauchen Frieden« hat er von Schülern »künstlerische Dokumente des Grauens« mitgebracht - Bilder, in denen sie ihr Trauma schildern. Der Verein ist dort nachhaltig aktiv, von den jüngsten Einsätzen wurde in der Hauptversammlung im November berichtet. Der frühere Leiter der Metzinger Gewerbeschule, Roland Kilgus, bringt mit seiner Frau Grete ebenfalls Spenden und Hilfsgüter in zerstörte Gebiete der Insel. 100.000 Euro hat er mit dem Lions Club Kirchheim-Nürtingen für Tsunami-Opfer gesammelt.
März 2005: Kurz vor der Katastrophe hatten eine 35-Jährige aus Mössingen und ihr Ofterdinger Freund noch eine SMS aus Khao Lak nach Hause geschickt. Dann brach der Kontakt ab. Nun haben ihre Familien Gewissheit: Das Paar gehört zu rund 5.000 Menschen, die in dem Ferienort an der thailändischen Küste gestorben sind. Die Angehörigen sind froh, dass das Paar schnell identifiziert werden konnte. Von Bekannten und Freunden erfahren sie »große Unterstützung«, berichten die beiden Trauerfamilien. Auch Dr. Anne Schwarz aus Pliezhausen war am 26. Dezember 2004 in Khao Lak - und ist am Leben. »Die Flut hat vier Meter vor uns aufgehört«, erzählt sie. Mit ihrem Mann, ebenfalls Mediziner, leistete sie Hilfe »in der Hölle«. Mitte März fliegt das Paar zurück, um »etwas Nachhaltiges auf die Beine zu stellen«. Die Gemeinde Pliezhausen richtet ein Spendenkonto ein. 35.000 Euro kommen zusammen - für Fischerboote, Baumaterial und Waschmaschinen auf Phuket. Der gebürtige Singhalese Nihal Niedermeier berichtet in Trochtelfingen vom Einsatz im medizinischen Camp von Hikkaduwa - 54.134 Euro wurden auf Initiative des Bürgermeisters gesammelt. Vorrangig soll damit das Krankenhaus wieder aufgebaut werden.
Mai 2005: Was der Reutlinger Heinz Eberle am Zweiten Weihnachtstag in Khao Lak durchgemacht hat, klingt ganz ähnlich wie die Geschichte der Familie Belón, die den eingangs erwähnten Spielfilm inspirierte, der aktuell auf verschiedenen Streaming-Plattformen zu sehen ist. Zu Ostern fährt er mit seiner Partnerin zurück und bringt Spenden in Höhe von 17.000 Euro ins zerstörte Beach Resort.
Dezember 2005: Christine und Hans Heinrichs aus Reutlingen haben seit Januar 350.000 Euro für Opfer der Tsunami-Katastrophe in Sri Lanka gesammelt. Dreimal drei Wochen waren sie selbst für ihren Verein »Hilfe für Südwest-Sri Lanka« vor Ort und haben unter anderem 100 Holzhäuser, zwei Brunnen und zehn massive Häuser als Unterkunft für 80 Menschen gebaut. Die Schäden sind noch lange nicht behoben, berichten sie. »Die Situation hat sich nur unwesentlich geändert.«
März/November 2006: Dem Ohmenhäuser Dieter Bögel ist die Aufbauhilfe für Tsunami-Waisen zur Herzenssache geworden. »Der Wiederaufbau ist in vollem Gange«, berichtet er aus Sri Lanka. Heinrichs erweisen sich als »hartnäckige Wohltäter« - Spendenstand: 565.000 Euro. Das Paar achtet weiter darauf, dass das Geld bei den Bedürftigen ankommt. Abseits größerer Straßen herrsche noch immer Chaos, schildern die beiden, die davon ausgehen, dass sie ihren »kleinen Teil« noch drei bis vier Jahre lang beitragen.
Dezember 2014: Der Reutlinger Markus Niethammer berichtet im GEA, wie er dem Tsunami auf Sri Lanka ganz nah war - aber zumindest körperlich unbeschadet davonkam. Nach einer Hochzeit in Colombo war er mit seiner späteren Frau und zwei Freunden ins Fischerdorf Unawatun im Süden der Insel gereist. »Eine richtige Idylle.« Doch verwaiste Korallenriffe und starke Brandung veranlassten die Reisenden, schon an Heiligabend in die Berge aufzubrechen. Dort spürten die beiden Frauen morgens Erdstöße. Die Stimmung war seltsam, erinnert er sich zehn Jahre später. Die Wirtin sagte nur, »dass sie ein Problem am Strand hätten«. Anrufe von seiner Mutter und dem Reisebüro, die fragten, ob sie am Leben seien, ließen sie ahnen, was passiert war. Aber »das ganze Ausmaß kannten wir damals nicht«. Reportagen und Dokus über die bislang tödlichste Naturkatastrophe des 21. Jahrhunderts kann er auch zehn Jahre später noch nicht anschauen. (GEA)