SONNENBÜHL-GENKINGEN. Frostig ist es in der Silvester- und Neujahrsnacht. Trotzdem hält es einige Genkinger nicht vor dem warmen Ofen. Sie haben eine Mission wie ihresgleichen schon vor fast 100 Jahren. Sie steigen mit ihren Posaunen, Trompeten und Tuben auf den Turm der Michaelskirche und lassen ihre Instrumente über die Dächer des Dorfs hinweg erklingen. »Ich wüsste nicht, wo das in der näheren Umgebung noch so konstant gemacht wird wie bei uns«, sagt Helmut Herrmann. Der Vorsitzende des Posaunenchors aus Genkingen hat ein wenig recherchiert und ist in einem Protokoll einer Sitzung des Kirchengemeinderats von 1927 fündig geworden. Darin heißt es: »Es wird beschlossen, daß in der Nacht vom 31. Dezember 12 Uhr ein Zusammenläuten mit den Glocken stattfinden soll, im Anschluß daran soll dann der Posaunenchor des Jünglings-Vereins vom Turm der Kirche Choräle blasen. Auch das Läuten soll von den Bläsern ausgeführt werden. Da auch sonst schon der genannte Posaunenchor bei Gottesdiensten mitgewirkt hat, wurde ihm aus der K.-Pflege 10 M verwilligt.«
Und so halten es die Genkinger Bläser seither bis heute. Am Silvesterabend ist für sie kein Ausruhen angesagt. Um 18 Uhr haben sie den Abendmahlsgottesdienst in der Michaelskirche musikalisch gestaltet. Damit ist für sie aber noch nicht Ende des Dienstes, nur etwa sechs Stunden Pause gönnen sie sich zwischen altem und neuem Jahr. Zwar gehen sie nach Hause und beenden die letzten Stunden des Jahres bei Familie oder Freunden, aber noch bevor es tatsächlich Zwölfe schlägt, brechen sie auf, sind schon wieder unterwegs zur Kirche. Nicht in der feinsten Sonntags- oder Festtagstracht. Denn ihre Mission führt sie hinauf in die Glockenstube der Genkinger Michaelskirche. 53 Stufen sind zu überwinden, die Holzstiegen sind steil, der Weg eng, und gewienert wird hier auch nicht täglich. »Was sich nicht vermeiden lässt, ist, dass ein Instrument dabei auch schon mal eine Delle davonträgt«, sagt Helmut Herrmann. Und Jacke und Hose staubige Flecken bekommen. Seine Tuba jedenfalls spricht Bände über das Turmblasen, an dem er selbst schon seit Jahrzehnten mitwirkt.

Die kleine Gruppe, acht Bläser sind es zu diesem Jahreswechsel, trifft sich mit einigen Freunden und Familien um Mitternacht unten am Turm der Kirche, der aus grob gehauenen Feldsteinen erbaut wurde und aus dem Mittelalter stammt. Dann läuten die Glocken um 0 Uhr und künden davon, dass nun das neue Jahr begonnen hat. Gut, dass Helmut Herrmann im Besitz eines Schlüssels ist, der den frosterprobten Musikern die Tür zum Turm öffnet. »Früher musste immer der Pfarrer kommen, um uns aufzutun.« Der wurde dann und wann auch schon mal von einer Feier abgeholt, damit das Turmblasen nicht ausfällt.
Dann geht's hinauf, mit Stirn- und Taschenlampen, mit Instrumenten, Noten, Notenständern und schon kalten Fingern. Handschuhe eignen sich nicht, will man zwischen den vier auf die Namen der Patrone und Nebenpatrone der Kirche Michael, Maria, Margaretha und Martin getauften Glocken musizieren. »Manchmal sind die Finger so kalt, dass man gar nicht spürt, ob sie auf der richtigen Klappe sind. Aber so wenig kalt wie diesmal war es selten«, sagt Helmut Herrmann. Ob das bei etwa minus vier Grad tatsächlich stimmt? Sei's drum, die Bläser haben nicht gepatzt. Weder wegen der Kälte, noch weil sie in der engen Glockenstube auf jeden Schritt achten müssen, damit sie nicht die Seile des Geläut-Mechanismus berühren. Es ist aber auch schon mal vorgekommen, dass jemand stolpert und eine der Glocken auf einmal einen Schlag zur falschen Zeit tut.
Unten auf den Straßen verjagen die Menschen mit Raketen und Böllerschüssen das alte Jahr und begrüßen das neue. Um 0.15 Uhr mischen sich dann andere Klänge in die kalte Nachtluft. Fünf bis sechs alte Choräle stimmen die Instrumentalisten an und enden immer mit dem »Gloria sei dir gesungen« von Johann Sebastian Bach. Das erzeugt Gänsehaut, die nicht nur von der Kälte herrührt. Je nach Windrichtung wehen die Töne über die Genkinger Dächer in das eine oder andere Wohngebiet, bei Flaute sind sie im ganzen Dorf zu hören und senden den Menschen die Hoffnung auf bessere Zeiten. »Die Genkinger schätzen das, viele melden uns zurück, dass sie uns gehört haben und es sie gefreut hat«, sagt Helmut Herrmann. Für viele hat das neue Jahr erst begonnen, wenn der Posaunenchor gespielt hat.
»Wir unterbrechen unsere privaten Silvesterfeiern gern, denn das Turmblasen ist ein schöner und netter Dienst. Wir wollen so das neue Jahr gut anfangen lassen, auch im christlichen Sinn.« So wie der Posaunenchor mit den Geburtstagsständle für die ab 80-jährigen Genkinger Freude bringt oder er mit dem Musizieren an den anderen kirchlichen Festtagen wie Advent, Weihnachten, Ostern, Pfingsten und Erntedank in Gottesdiensten und am Vorabend des 1. Mai vor dem Rathaus musikalisch gute Wünsche schenkt. Ein schönes Erlebnis ist das Turmblasen auf jeden Fall, Melanie - sie spielt auf der Trompete die zweite Stimme - wollte in diesem Jahr unbedingt dabei sein. Für die Mitte 20-Jährige, die nach ihrer Jungbläserzeit seit etwa zehn Jahren im Posaunenchor spielt, war es das erste Mal und für sie wie für alle anderen war das kleine Konzert oben im Turm ein besonderer Moment.
In dieser Nacht während des Wechsels von 2024 auf 2025 darf das Turmblasen für den Posaunenchor außerdem als ein ganz spezieller Auftritt begriffen werden, ist es doch ein »super Auftakt« in das Jubiläumsjahr gewesen, das vor den Bläsern liegt. Vor 100 Jahren wurde der Posaunenchor gegründet, was am 8. November - dem Gründungstag - entsprechend gefeiert werden soll. Und vielleicht stimmen dann die auf H, Gis, Fis und Cis gestimmten Glocken oben im Turm der Genkinger Michaelskirche ihrerseits ein Ständchen für die Bläser an, die aus dem Ort nicht wegzudenken sind und auch immer wieder in der Neujahrsnacht seit 1927 von sich hören lassen. (GEA)