MÜNSINGEN/STUTTGART. Die Wellen schlugen hoch, als die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) im Oktober nicht nur die Politik, sondern auch die Menschen auf dem Land vor vollendete Tatsachen stellte: Die Notfallpraxis in der Münsingen Albklinik, wo der hausärztliche Wochenend-Notdienst bisher angesiedelt ist, soll schließen. Und mit ihr 17 weitere im ganzen Land. Sowohl Landtagsabgeordnete als auch Bürgermeister fielen aus allen Wolken. Die Empörung hat sich seither nicht gelegt, Kommunalpolitiker und Bürger, laufen Sturm.
Nun steht auch fest, wann welche Standorte schließen: Ihre Pläne stellte die KVBW in einem Treffen gestern mit Bürgermeistern, Landräten und Abgeordneten in Stuttgart vor. Die Praxen sollen demnach Schritt für Schritt ihren Betrieb einstellen, die letzten fünf Ende November 2025. Die ersten drei sollen bereits Ende März kommenden Jahres schließen. Die restlichen Standorte sollen Ende Juni, Ende Juli, Ende September und Ende Oktober geschlossen werden. Münsingen steht relativ weit hinten auf der Liste, hier soll am 30. September Schluss sein.
»Es geht nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie«
Neben den Schließungsterminen nannte die KVBW sogenannte »Auffangpraxen«, die die zusätzlichen Patienten aus den schließenden Praxen aufnehmen sollen. Diese Praxen würden erweitert, etwa durch längere Öffnungszeiten, mit mehr Ärzten vor Ort oder auch beides. Für Münsingen wurden zwei Auffangpraxen genannt, Ehingen und Reutlingen. Ehingen wird mit sechs zusätzlichen Arztstunden ausgestattet, Reutlingen mit acht. Die Öffnungszeiten unterscheiden sich: Ehingen ist nur samstags, sonn- und feiertags von 9 bis 19 Uhr für Patienten geöffnet. In Reutlingen sind die Öffnungszeiten an den genannten Tagen länger, die Praxis ist von 8 bis 22 Uhr besetzt. Außerdem ist dort an Wochentagen abends von 18 bis 22 Uhr geöffnet, wenn die regulären Hausarztpraxen geschlossen haben.
»Man wird sehen müssen, ob das ausreichend ist«, kommentiert das der er in Sonnenbühl lebende CDU-Landtagsabgeordnete Manuel Hailfinger, der beim Treffen dabei war. »Die KV hat heute eingeräumt, dass fünf bis sechs Prozent der Bürger nicht innerhalb von 30, sondern innerhalb von 45 Minuten in der nächsten Notfallpraxis sind. Das ärgert mich, das sind keine gleichwertigen Lebensverhältnisse für Stadt und Land mehr«, schimpft der Abgeordnete, der das Treffen als »eher betrüblich« bezeichnet. Minister Manne Lucha habe sich gleich zu Beginn »voll auf die Seite der KVBW geschlagen und sich 1:1 hinter deren Pläne gestellt. Damit habe ich so nicht gerechnet«, berichtet er. »Grund zur Hoffnung haben wir nach dem dem heutigen Tag nicht, wenn der Minister die Schließungen bestätigt, ist das erst mal so. Es geht nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie.«
Die Stimmung bezeichnet er als »angespannt und konfrontativ, zum Schluss ist sie fast eskaliert«. Gegenrede bekamen der Minister und die Vertreter der KVBW nicht nur von den Landräten und Bürgermeistern, sondern auch von den Abgeordneten. »Da rumort es gewaltig«, sagt Hailfinger. Er will das Gespräch mit den Kollegen weiter suchen, um zu klären, »ob man das Ding nicht doch noch politisch abräumt«. Will heißen: Dass das Sozialministerium die Rechtsaufsicht und damit eine Möglichkeit der Intervention, die Lucha vehement von sich weist, doch noch übernimmt und damit die KVBW sozusagen entmachtet. »Das ist aber nicht von heute auf morgen machbar«, so Hailfinger. »Ich bin auch gespannt, ob nicht noch jemand klagt, zum Beispiel die Landkreise. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die das so stehen lassen.«
»Die Pläne der KVBW sind eine Unfähigkeitserklärung«
Der Weiße Saal im Schloss, wo das Treffen stattfand, sei voll gewesen, berichtet Hailfinger. Pressevertreter waren nicht eingeladen, und auch bei den übrigen Gästen ging die KVBW offenbar selektiv vor. Die anwesenden Ärzte waren, so schildert der Münsinger Bürgermeister Mike Münzing seinen Eindruck, handverlesen. »Man hat offenbar sehr genau betrachtet, ob sie hinter der Reform stehen und sie als Claqueure platziert – das ist schon faszinierend«, sagt Münzing, der aus seiner Wut keinen Hehl macht. Die Pläne der KVBW bezeichnet er als »Unfähigkeitserklärung«: »Die Reaktion auf ein Handlungsdefizit, das man zehn Jahre lang ausgesessen hat, ist jetzt, dass man das Defizit noch größer macht und Leistungen noch weiter zurückfährt«, schüttelt er den Kopf.
»Man muss Münsingen anders betrachten, eine Sonderlösung hinkriegen«
Bezeichend: Ein Vertreter der Münsinger Ärzteschaft war nicht eingeladen. Prädestiniert, aber wohl auch etwas unbequem gewesen wäre Dr. Eberhard Rapp: Als Hausarzt übernimmt er nicht nur Dienste in der Notfallpraxis, sondern koordiniert dort auch die Kollegen. Außerdem ist er im Gemeinderat – und führt eine Bürgerinitiative an, die inzwischen 14.500 Unterschriften für den Erhalt der Notfallpraxis gesammelt hat. Die Liste sollte eigentlich bei einer Protestveranstaltung am 30. Januar in der Alenberghalle übergeben werden.
Jetzt, meint Mike Münzing, ist ungewiss, ob die überhaupt so über die Bühne gehen wird. Ministerpräsident, Sozialminister und KVBW-Vertreter haben die Einladung inzwischen abgelehnt, die KVBW verweist darauf, dass sie eigene Info-Veranstaltungen vor Ort für Bürger anbieten wolle. Anfragen für einen geeigneten Raum lägen ihm allerdings noch nicht vor, provoziert Münzing. Eine gute Gelegenheit zur Unterschriftenübergabe böte sich am 22. Januar in Stuttgart: Morgens ist Landtagssitzung, nachmittags tagt der Gesundheitsausschuss.
Münzings Kritik daran, dass bestehende Strukturen zerschlagen werden, bevor neue, funktionierende aufgebaut wurden, teilt Matthias Einwag als Hauptgeschäftsführer der Baden-Württtembergischen Krankenhausgesellschaft, der gestern mit auf dem Podium neben den Vertretern von KVBW und Sozialministerium saß. Wie Münzing fürchtet er, dass sich das Problem zulasten der Krankenhäuser verschiebt. »Jemand, dem es gesundheitlich nicht gut geht, nimmt den kürzesten Weg«, meint Münzing. Und fährt dann eben nicht nach Ehingen oder Reutlingen, sondern in die Münsinger Notaufnahme. Die allerdings ist nicht die richtige Adresse für Beschwerden wie Bauch- oder Halsweh, sondern für Menschen in lebensbedrohlichen Lagen – sei es ein Unfall oder ein Herzinfarkt.
Ein Fünkchen Hoffnung, dass es für die Münsinger Notfallpraxis eine wie auch immer geartete Zukunft gibt, hat Hailfinger aus einem bestimmten Grund doch noch. »Münsingen ist ein Spezialfall. Hier wollen die Ärzte im alten Modell weitermachen«, verweist er auf das Engagement von Rapp und seiner BI. In anderen Regionen sei das eher nicht so, »dort stehen die Ärzte geschlossen auf Seiten der KVBW.« Deshalb, findet er, »muss man Münsingen auch anders betrachten und eine Sonderlösung hinkriegen«. Bereits im Oktober war vom »Münsinger Modell« die Rede. Allerdings ging es dabei nicht darum, die Notfallpraxis offen zu halten, sondern telemedizinische Strukturen besonders auszubauen. (GEA)