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Kleines Dorf Hausen kommt groß raus

Druckfrisch und über 221 Seiten stark: Mit viel Akribie hat der Ex-Hausener Achim Österle ein Buch über seinen Heimatort geschrieben. Am Sonntag, 15. Dezember, wird es im Trochtelfinger Mini-Stadtteil vorgestellt.

Der CVJM Reutlingen zu Besuch in Hausen. Die Dorfjugend und Pfarrer Immanuel Fischer samt seiner Familie ist dabei. Das Bild wur
Der CVJM Reutlingen zu Besuch in Hausen. Die Dorfjugend und Pfarrer Immanuel Fischer samt seiner Familie ist dabei. Das Bild wurde an Pfingsten 1922 aufgenommen. Foto: privat
Der CVJM Reutlingen zu Besuch in Hausen. Die Dorfjugend und Pfarrer Immanuel Fischer samt seiner Familie ist dabei. Das Bild wurde an Pfingsten 1922 aufgenommen.
Foto: privat

TROCHTELFINGEN. Man müsste, man sollte, man könnte doch: Wer so denkt, dessen Projekte und Ideen bleiben oft nicht mehr als bloße Gedankenspiele. Anders bei Achim Österle. Okay, das Buch über Pink Floyd, das er in Jugendtagen schreiben wollte, ist tatsächlich noch nicht mal bis zum Manuskript gereift. Ein Buch hat der 59-Jährige dennoch verfasst und im Selbstverlag herausgegeben. Es handelt von seinem Heimatort: das kleine Hausen an der Lauchert. Was gibt's darüber schon zu berichten? Viel, ist Achim Österle überzeugt und hat am Ende mehr Stoff zusammengetragen als auf 221 Buchseiten passen. Fortsetzung irgendwann nicht ausgeschlossen. Denn in Hausen mit heute rund 230 Einwohnern war und ist jede Menge los. Als Beweis auch für das Wesen der »Hausemer« mag ein geflügeltes Wort herangezogen sein: In Hausen gehe es bei einer Beerdigung lustiger und geselliger zu als in Mägerkingen bei einer Hochzeit.

Blick auf Hausen in den 1920er-Jahren.
Blick auf Hausen in den 1920er-Jahren. Foto: privat
Blick auf Hausen in den 1920er-Jahren.
Foto: privat

Begonnen hat die Geschichte aus ganz persönlichem Anlass: Achims Onkel Karl - Karl Lorch auf der Staig - feierte 2010 seinen 80. Geburtstag. Ein Geschenk zu finden, stellte den Neffen vor eine Herausforderung. Karl war ein Schaffer, für Gaben mit Chichi hatte er wohl eher keinen Sinn. Also tauchte Achim ab in die Familiengeschichte, suchte alte Fotos, stellte ein Album zusammen. Und tatsächlich: Beim Betrachten der Fotografien blühte Karl auf und kam nicht raus aus dem Erzählen über die Abgebildeten. Achim indes hatte während seiner Suche viel über die Familie Lorch herausgefunden, Neues, Spannendes, Erklärendes, Erhellendes. Also überlegte er weiterzuforschen, einen Stammbaum zu erstellen und verfolgte die Lorchens bis ins Jahr 1600 zurück. Und wieder war der Fundus so groß, war die Familien- mit der Ortsgeschichte so eng verknüpft, dass er weiter grub, weiter recherchierte, in Archive abtauchte, mit seinen Verwandten sprach und viele erstaunliche Funde zutage förderte. »Man findet Dinge, die man nicht glauben kann«, von denen man nicht denke, dass sie sich im winzigen Hausen zugetragen haben könnten.

Schuhmacher Friedrich Ulmer mit seiner Frau Anna.
Schuhmacher Friedrich Ulmer mit seiner Frau Anna. Foto: privat
Schuhmacher Friedrich Ulmer mit seiner Frau Anna.
Foto: privat

Bis 1975 lebte er selbst in Hausen, hat viele Kindheitserinnerungen, dann zwei Schock-Momente: Er musste die Schule in Mägerkingen besuchen, als die Hausener Bildungseinrichtung 1970 für immer schloss. Und auch das ist eine interessante Geschichte: 1965 erst war das Schulhaus eingeweiht worden, die eigenständige, damals 265 Einwohner kleine Gemeinde investierte 600.000 Mark in den Bau, in dessen Klassenzimmer nach dem endgültigen Schulschluss die Konservenfabrik EFRIGA einzog: Der Geruch, der dort herausströmte, ist sicher manchem Hausener noch bekannt: Es war »D'Kuttlafabrik«. »Es hat gestunken wie d'Sau«, sagt der Autor. Schock Nummer zwei für Achim Österle: Sein Vater trat eine Arbeitsstelle in Gammertingen an, die Familie zog um. Ade Hausen. Vergessen hat er seine Wurzeln nie. Und trotzdem fügt sich alles: In Gammertingen lernte er Peter Reiff kennen. Die beiden Männer verbindet eine Freundschaft, und Reiff als gelernter Schriftsetzer und Grafiker war beim Projekt mit an Bord und hat für eine ansprechende Gestaltung der Seiten gesorgt.

Das Haus Hugo Lorch 1912.
Das Haus Hugo Lorch 1912. Foto: privat
Das Haus Hugo Lorch 1912.
Foto: privat

Eine Chronik im klassischen Sinn wollte Achim Österle nicht schreiben, obwohl er die Geschichte des Ortes von 400 vor Christus bis heute skizziert und abbildet. »Mich interessiert vor allem, wie sich Weltgeschehen und -politik auf das Dorf ausgewirkt haben.« Und da gibt es einiges zu erzählen über Inflation in den 1920er-Jahren, den Boxeraufstand in China, an dem ein Hausener teilnahm, den Dreißigjährigen Krieg, Kirchen- und Ländergeschichte. Hausen war eine Württembergische Enklave im Hohenzollerischen Umfeld. Zwischen 1637 bis 1648 stand Hausen auch mal unter österreichischer Herrschaft.

Hausener Schüler im Jahr 1942.
Hausener Schüler im Jahr 1942. Foto: privat
Hausener Schüler im Jahr 1942.
Foto: privat

Achim Österle suchte im Staatsarchiv in Stuttgart, in der Zweigstelle in Sigmaringen, auch in Reutlingen nach Informationen über Hausen, wälzte Kirchenbücher. »Aus den Kirchenvisitationsakten kann man viel herauslesen, auch über persönliche Schicksale«, sagt er. Viele Tage verbrachte er zwischen alten Folianten, ja sogar der Urlaub wurde aufs Forschungsprojekt verwendet. Elf Jahre lang ging das so, nachdem Onkel Karl 2013 gestorben war und einer, der noch Erinnerungen an früher hatte, nun nicht mehr berichten konnte. Überliefert ist dennoch jede Menge, was Österle erstaunte. Wäschekörbeweise Material hat er angehäuft.

Im Gasthaus Adler 1921.
Im Gasthaus Adler 1921. Foto: privat
Im Gasthaus Adler 1921.
Foto: privat

Spannend sind Zeitzeugenberichte. So zum Beispiel die Beschreibung des Oberamts Reutlingen von Professor Memminger im Jahr 1824. Hausen charakterisiert er zu dieser Zeit so: Es ist ein evangelisches Pfarrdorf mit 383 Einwohnern, zwei Brücken und einem Steg über die Lauchert. Die Hausdächer seien meist mit Stroh gedeckt. »Das Feld ist schlecht und liefert, da es überdies noch mager bebaut wird, einen geringen Ertrag.« Es werde viel Flachs und Hanf gepflanzt, viel gesponnen. Fischerei ist für einige Einwohner ebenfalls ein Erwerbszweig. Den Bewohnern von Hausen attestiert er, dass diese »übrigens viel geselliger als ihre Nachbarn, die Mägerkinger« seien. Von den 96 Gebäuden des Orts sind 64 Wohnhäuser, 30 Wirtschaftsgebäude. Eine Kirche und ein Schulhaus stehen in Hausen, es gibt fünf Branntweinbrennereien und zwei Schildwirtschaften.

Das Haus Ulmer.
Das Haus Ulmer. Foto: privat
Das Haus Ulmer.
Foto: privat

Auch eine Transkription aus der Sammlung volkstümlicher Überlieferungen in Württemberg eines Konferenzaufsatzes des Schullehrers Stegmaier vom 12. Mai 1900 hat der Autor gefunden. Der Lehrer berichtet darin über das Leben, Sitten, Bräuche, Kleidung, Nahrung, Geburt und Tod in Hausen. Über die Zeit um circa 1910 sind die Erinnerungen von Friedrich Bulach 1950 niedergeschrieben worden, der den Alltag der Menschen in Hausen beschreibt. Er skizziert die harte Lebenswirklichkeit, aber auch die große Solidarität und Hilfsbereitschaft der Hausener, etwa beim Hausbau: Fast das ganze Dorf griff nach Kräften dem Bauherrn unter die Arme, »alles um einen Selbstverständlichkeitswillen und um ein ,Vergeltsgott'«. Arme, Alte und Gebrechliche wurden gemeinschaftlich verpflegt. Es soll ein ungeschriebenes Gesetz gegeben haben, nach dem jeden Tag eine andere Familie, ein anderes Haus die Ortsarmen zu verpflegen hatte.

Bild von Lorenz Müh, der in China war.
Bild von Lorenz Müh, der in China war. Foto: privat
Bild von Lorenz Müh, der in China war.
Foto: privat

Ein weiteres Zeitfenster in die Vergangenheit des Dorfs öffnet Pfarrer Immanuel Fischer, der zwischen 1919 und 1927 in Hausen war. Seine Notizen sind die »Erinnerungen eines Landpfarrers«. Man erfährt, warum keine Bahn durch Hausen fuhr: »Die Bahn hatte seinerzeit nicht das Gefallen der umliegenden Albdörfer gefunden: Die Roßbauern waren der Meinung dass eine Eisenbahn sie um den Fuhrlohn bringe. Eine Abordnung sei sogar an höchster Stelle, beim König selbst, vorgelassen worden und hätte mit Erfolg den Bau der Bahn über Genkingen, Undingen, Willmandingen bis Trochtelfingen verhindert. So war die Bahnlinie über die Heide und das Hasental, wo sich Fuchs und Hase Gutenacht sagten eine Idylle.«

Das Leben in Hausen war nicht leicht.
Das Leben in Hausen war nicht leicht. Foto: privat
Das Leben in Hausen war nicht leicht.
Foto: privat

Und auch eine ganz persönliche Geschichte des Pfarrer-Ehepaars ist nachzulesen. Die Reise des Pfarrers und seiner Frau zur Entbindung der Tochter nach Ulm endete in der Bahnhofswirtschaft im katholischen Großengstingen, ein Anschlusszug fuhr am Abend nicht. »Der Bahnhof steht auf einsamer Flur, ebenso einsam einige hundert Meter entfernt die Bahnhofwirtschaft.« Pfarrer Fischer hat nicht nur in der Hausener Kirche gewirkt. Er schreibt: »In meinem Hausen ... war ich nicht nur Seelsorger, sondern auch Leibsorger.« Denn der Umgang des Trochtelfinger Arztes Dr. Ernst Kelber mit den armen Hausenern und alten Leuten war nicht eben zimperlich und fürsorglich. »Im Laufe der Hausener Jahre hatte sich für unsere ärztliche Betreuung eine Arbeitsteilung herausgestellt, ich wurde zu mehr äußerlichen Nöten und blutigen Fällen geholt, meine Gattin zu den Kindern und bei inneren Anliegen.«

In den 1950ern: Die jungen Männer, unter anderem Hermann Ulmer, Reinhold Lorch, Hans Christian, Karl Lorch und Fritz Maisch, tre
In den 1950ern: Die jungen Männer, unter anderem Hermann Ulmer, Reinhold Lorch, Hans Christian, Karl Lorch und Fritz Maisch, treffen sich. Foto: privat
In den 1950ern: Die jungen Männer, unter anderem Hermann Ulmer, Reinhold Lorch, Hans Christian, Karl Lorch und Fritz Maisch, treffen sich.
Foto: privat

Auch in den 20er-Jahren liegt Hausen noch in der Einöde. Das hat Folgen. »Die Hausemer sind ein besonderes Völklein. Sie sind ein Häuflein Evangelischer mitten unter Katholiken, daher in sich stark versippt, auch um Sach zu Sach kommen zu lassen.« Über die Menschen heißt es: »Böswilligkeit, Auflehnung kamen kaum vor. Die Mädchen waren strebsamer, später allerdings durch Überforderung im Haus als Mütter und Mägde zugleich vor der Zeit alternd.« Und: »Auf der Alb sind Frauen Arbeitstiere.«

Der Autor Achim Österle mit seinem Werk: Das Buch über Hausen an der Lauchert ist lesenswert und ansprechend gestaltet.
Der Autor Achim Österle mit seinem Werk: Das Buch über Hausen an der Lauchert ist lesenswert und ansprechend gestaltet. Foto: Cordula Fischer
Der Autor Achim Österle mit seinem Werk: Das Buch über Hausen an der Lauchert ist lesenswert und ansprechend gestaltet.
Foto: Cordula Fischer

Hausen hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Nach Ende des Dreißigjährigen Kriegs 1648 zählt der Ort nur noch sieben Einwohner. 1896 waren es immer hin 465. Achim Österle erinnert an die drei Gastwirtschaften Hirsch, Adler und Sonne, letztere schloss 1996. Und immer wieder spielt die Geschichte seiner eigenen Familie eine Rolle. Am 18. und 19. September 1937 gab es großes Treffen der Sippe Lorch, das ganze Dorf wurde damals geschmückt, Wirtshäuser waren ausgelastet, es wurden zusätzlich Zelte aufgestellt. In die Annalen ist dieses legendäre Treffen als Lorchenfest eingegangen. Alles, was Achim Österle zusammengetragen hat, liest sich spannend, auch als Reigschmeckter und nicht verwandtschaftlich in Hausen Verbandelter findet man viel Überraschendes: Unglücksfall, Tresorraub, angezeigter Wahlbetrug. Hausen kann sich einiger »berühmter« Persönlichkeiten rühmen: Globenbauer Johann Philipp Andreae, Missionare, Ärzte, Politiker und die 1963 geborene Dr. Rhona Fetzer, seit 2023 Richterin des Bundesverfassungsgerichts. »Hausen hat's verdient, dass man das alles aufschreibt«, sagt der Autor.

Der Turnverein Hausen anno dazumal.
Der Turnverein Hausen anno dazumal. Foto: privat
Der Turnverein Hausen anno dazumal.
Foto: privat

Am Ende des Buchs gibt es noch einige aus Achim Österles Familie stammende Hausener Anekdoten. Und die sollen nach Wunsch auch bei der Vorstellung des Buchs am Sonntag, 15. Dezember, von den Gästen ausgetauscht werden. Der Bürgerverein Hausen unterstützt Österle bei der Präsentation, richtet die Mehrzweckhalle her, sorgt für Kaffee und Kuchen. »Für mich ist das Buch ein Kunstwerk«, sagt Fred Bulach vom Bürgerverein, er ist überzeugt, dass der Sonntag ein »Festtag für Hausen wird«, so als würde die Kirche eine neue Glocke bekommen.

Eine Ansichtskarte zeigt, wie Hausen 1934 aussah.
Eine Ansichtskarte zeigt, wie Hausen 1934 aussah. Foto: privat
Eine Ansichtskarte zeigt, wie Hausen 1934 aussah.
Foto: privat

Ein Festtag, an dem wieder einmal viele Exil-Hausener anreisen werden, sagt er. Ob ein zusätzliches Zelt wie beim Lorchenfest aufgestellt werden muss? Könnte passieren, zumindest erwarten alle, dass sich die Hausener Einwohnerzahl vervielfältigen wird. 500 Buch-Exemplare sind gedruckt, wer sich eins sichern will, hat am Sonntag ab 14 Uhr Gelegenheit dazu, außerdem liegen immer einige Bücher unter anderem in den Hausener Wirtschaften und bei Schreibkultur am Schloss in Trochtelfingen aus. Und weil Achim Österles Forscherdrang nicht versiegt ist, ist er interessiert an neuem Material. Wer etwas auf Bühne oder im Keller findet, kann den Autor kontaktieren per E-Mail an achim-oesterle@t-online.de. (GEA)