GAMMERTINGEN-MARIABERG. Linus (Name geändert) kann sich über Stunden hinweg einen Marienkäfer anschauen, der über seine Finger krabbelt; er verliert sich dann komplett in der Betrachtung bis ins letzte Detail. Als ein anderer junger Mann aus der sozialtherapeutischen Wohngruppe stolz ein vierblättriges Kleeblatt präsentiert, das er auf den Hängen des Torackerwegs in Gammertingen-Mariaberg gefunden hat, muss auch Linus auf die Jagd nach dem kleinen Glücksbringer gehen.
Die geht er genauso sorgsam an wie seine Marienkäferstudie: Den Blick auf das Gras gerichtet, geht es stundenlang Quadratmeter für Quadratmeter absuchend, halb liegend, halb robbend über die Wiese. Sein Mitbewohner Metin (Name geändert) schließt sich an. Eine sozialpädagogische Fachkraft begleitet die autistischen jungen Männer, die beide stark zwanghafte Züge aufweisen, und macht für die beiden einen Wettbewerb daraus. Sie finden nicht nur vier-, sondern sogar fünfblättrige Kleeblätter. Die lassen sich – ein positiver Nebeneffekt zum Erfolgsgefühl – auch hervorragend an die anderen Klienten des Mariaberger Jugendhilfeangebots verschenken.
Hier wohnen zwölf Jugendliche mit einer Doppeldiagnose aus seelischer Behinderung und psychischer Erkrankung in zwei Wohngruppen. Nebenan gibt es zwei therapeutische Wohngruppen, in der junge Menschen mit geistiger und/oder mehrfacher Behinderung und zusätzlich herausfordernden Verhaltensweisen ein Zuhause finden. »Als Linus zu uns kam, schlief er den ganzen Tag und kam nachts nicht zur Ruhe. Metin war so sehr in seinen Zwängen verhaftet, dass es seinen Alltag einschränkte«, erzählt Francesco Staibano, zuständiger Fachbereichsleiter der Mariaberger Ausbildung & Service gGmbH. Metin konnte seinen Gedankenkreisen nicht entrinnen: »Wenn ich rausgehe, kriege ich Schnupfen; wenn ich Schnupfen kriege, bekomme ich Halsschmerzen, und wenn ich Halsschmerzen habe … Er fühlte sich immer kurz vor seinem letalen Ende«, so Staibano.
Das Team der sozialtherapeutischen Wohngruppen arbeitete in Kooperation mit dem pädagogischen Fachdienst und dem Mariaberger Fachkrankenhaus für Kinder- und Jugendpsychiatrie an einer Rhythmisierung des Tages für die beiden. Sabrina Bez vom pädagogischen Fachdienst: »Wir müssen den Jugendlichen Strukturen und Regeln bieten und die Beziehungen zu ihnen immer und immer wieder pflegen.« Dass Metin mit Linus mittlerweile auf Kleeblattsuche seelenruhig den ganzen Tag im Freien verbringt, zeigt seine Fortschritte.
Individuellen Lebensweg finden
Die psychisch erkrankten Jugendlichen bringen oft schweres seelisches Gepäck und bedrückende Vergangenheiten mit sich: Selbstverletzung, sexueller Missbrauch und Suizidgedanken gehören zu den Themen, mit denen die Fachkräfte konfrontiert werden. »Da muss man schon etwas aushalten können und auch Lust auf die Klientel haben«, so Staibano. Bez ergänzt: »Wenn man einen Zugang findet und in die Beziehung zu den Jugendlichen investiert, dann hat man auch persönlich ziemlich schnell einen Gewinn.«
Bez betreut die Teams und Klienten der sozialtherapeutischen Wohngruppen in Mariaberg. Die Jugendlichen haben das Anrecht auf jeweils eine Stunde Beratungsgespräch pro Woche, in der Bez mit Gesprächs- und Verhaltenstherapie, Biografiearbeit und Konfliktmanagement auf die jeweilige Situation eingeht. Zu ihren Aufgaben gehört es auch, die Bewerbungen für Neuzugänge zu beurteilen und zu entscheiden, ob die Person in die Wohngruppe passt. Jeder Neuzugang kann Einfluss auf den Therapieverlauf der anderen haben.
Die Aufnahmeanfrage kommt über das zuständige Landratsamt an Mariaberg. In der sozialtherapeutischen Wohngruppe ist federführend das Jugendamt beteiligt, bei den therapeutischen Wohngruppen die Eingliederungshilfe. Staibano: »Es geht darum, junge Menschen, die aus dem System gefallen sind, wieder in die Gesellschaft zu integrieren« – und sie zu befähigen, ihren ganz individuellen Lebensweg zu entwickeln. (fm)