HAYINGEN-EHESTETTEN. Seit der Mensch der Schrift mächtig ist, benötigt er einen Untergrund, auf dem er seine Botschaften weitergeben kann. Die große Errungenschaft ist das Papier, ist der Buchdruck, um Wissenswertes festzuhalten und zu verbreiten. Dass Papier aber noch mehr kann, als als bloßer Träger für Geschriebenes zu dienen, das zeigt Künstlerin Almut Kaiser in ihren Collagen und Objekten. Papier ist auch ihr Medium, sie schafft aber nicht Kunst auf Papier, sondern Kunst aus Papier, das unbedruckt, geformt, gefärbt und bearbeitet, genäht, gerollt und gefaltet, verklebt, verknotet und geschichtet beredtes Zeugnis ablegt über die Kunst, einen Gebrauchsgegenstand zu Höherem zu erheben.
Wie in kleinen Schatzkammern sind die Objekte der Nürtinger Künstlerin in tiefen Rahmen, verschlossen mit Glas, verwahrt. Das hat praktischen Sinn, schützt diese vor Staub und anderen Umwelteinflüssen, und es erleichtert den Transport der fragilen Kunstwerke. Denn sie bestehen aus nichts mehr als Papier. Meist ist es ostasiatisches, wertvolles Seiden- oder Japanpapier. Es dient nicht als Schreibgrundlage, sondern wird unter Kaisers Händen zu Rollen, Mappen, Hüllen, Umschlägen - oder zumindest erinnern ihre Objekte daran, denn als solche Alltagsgegenstände sind sie nicht zu verwenden. Auch wie ein Buchbinder geht Almut Kaiser vor, verwendet sogar Buchbinderleim, zum Verkleben einzelner Blätter.
Die Ausstellung
Almut Kaisers Ausstellung »Objekte und Collagen aus Papier« ist von Samstag, 6. Juli, bis zum 18. August in der Galerie Sphäre, Obere Kirchstraße 14, in Hayingen-Ehestetten zu sehen. Die Vernissage beginnt am 6. Juli um 15 Uhr. Begleitend musiziert Johannes Junginger auf der Violine. Geöffnet ist die Galerie Sphäre immer samstags und sonntags von 14 bis 18 Uhr. (cofi)
Und tatsächlich entstehen so auch ganze Bücher, die sie zum Beispiel zu einer Rauminstallation namens »Studierplatz« zusammenfügt. Die meisten dieser »Pseudobücher« liegen oder stehen auf der Tischplatte und sind verschnürt. Nur eines liegt geöffnet da, drin lesen kann der Betrachter nicht - oder doch? Trotz fehlender notierter Wörter enthalten diese Bücher Botschaften, Geheimnisse, die zu lüften man mehr benötigt, als der Schriftsprache mächtig zu sein. Er muss sich einfühlen, einlassen, es ist ein zwischen den Zeilen Lesen und ein Weiterdenken vonnöten, um den Sinn der leeren, manchmal vergilbt wirkenden Seiten zu entschlüsseln, ohne dem Drang nachzugeben, die Knoten zu lösen und nachzuschauen, was sich hinter den Buchdeckeln verbirgt.
Die Mappen - die dafür verwendeten normierten, handgeschöpften Karten sind rostbraun gefärbt mit einer von Almut Kaisers Lieblingsfarben, Terra di Siena, dem eisenhaltigen Erdpigment aus der Nähe der italienischen Stadt - erinnern an uralte Folianten, die Wissen vergangener Jahrhunderte bewahren. Oder alte Briefe, lange nicht gelesen und doch sicher verwahrt. Die geformten und gefärbten Papier-Rechtecke gleichen Zeitschichten, übereinandergelegt, verleimt, verwoben. Auch die Mappen sind zugebunden. Denn das ist ein weiteres Thema der Künstlerin: Schnüre und Knoten. »Das Leben ist geheimnisvoll, es lässt sich schwer erkunden.« Und es sammeln sich in einem Leben seitenweise Geschichten, Erlebnisse, Erfahrungen. Solche, die auch Almut Kaiser künstlerisch umsetzen wollte. »Es gab eine Phase im Leben, da habe ich gemerkt, dass das zwingend notwendig ist.«
Das Objekt »Notebook« ist für Kaiser kein modernes Gerät, sondern ein aufgeblättertes, aufgefächertes Notizbuch, das mit herausgerissenen Seiten und einzelnen Zetteln an Wichtiges erinnern soll. An was? Vielleicht an die Vergänglichkeit, vielleicht daran, doch den einen oder anderen Knoten zu entknüpfen, vielleicht daran, ein neues Kapitel aufzuschlagen.
Almut Kaiser, 1943 geboren, hat erst nach der Geburt ihrer Töchter 1977 im Alter von 34 Jahren ihr Kunststudium aufgenommen und wirkt seit 1980 als freischaffende Künstlerin. Zunächst arbeitete sie mit textilen Materialien, seit den 1990er-Jahren beschäftigt sie sich mit Papier, zunächst als Stoff für Collagen oder dann auch räumlicher werdend. »Das Materialimmanente zu erkunden ist eine spannungsvolle Angelegenheit«, sagt sie. Struktur und Beschaffenheit bestimmen immer auch das Erscheinungsbild ihrer Objekte, die sie mit reduzierter Farbpalette gestaltet. »Ich bin erdverbunden und verwurzelt, habe aber auch das Gefühl von der Sphäre.« So kommen Schwarz, Weiß, Grautöne, Terra di Siena zum Einsatz oder Ultramarinblau, ursprünglich aus Lapis Lazuli gewonnen, das verdünnt etwas Luftiges haben kann. Manchmal setzt sie Schwarz und Weiß in Kontrast zueinander, ein Streifen, ein Band schafft dazwischen Verbindung, Korrespondenz entsteht.
Auch zeigt Almut Kaiser Rollen-Objekte. Vielleicht inspiriert durch die Schriftrollen von Qumran. Manche wirken tatsächlich so, als stammen sie aus einer archäologischen Ausgrabungsstätte, der Betrachter muss sie gleich dem Ausgräber und Wissenschaftler einordnen, enträtseln, ihnen ihre Bestimmung entlocken. Kaiser kombiniert ihre schriftlosen Papierrollen aus zurechtgeschnittenen Streifen und Bögen aber auch mit Holzstäbchen, die dem zarten Papier ein Gerüst geben. Die Stäbe stützen und gehen eine spezielle Verbindung mit dem Papier ein, bilden ein Gitter, ein Netzwerk, stabilisieren, aber geben den Blick durch dieses Gitter dennoch frei auf die Rolle, die das Papier dahinter spielt.
Während der Pandemie sind reliefartige Bilder entstanden. »Knitted« nennt Kaiser diese Serie, in der sie Schnüre verwebt, die die dunkle Leinwand wie ein Geflecht oder Gespinst überziehen. Gleich einem zerstörten Mosaik setzt Kaiser bei anderen Objekten aus der Reihe »mended« (repariert, geflickt) Papierfragmente, Schnipsel, Reste zu einem ästhetischen Ganzen zusammen. Es steht »der Wunsch, etwas ganz zu machen, etwas zu heilen« dahinter. Oder - wie bei der Serie »Wrap« - sie wickelt Papierstreifen und Stäbe ein, in Papier, gleich einem zerbrechlichen Kokon. (GEA)