LICHTENSTEIN/GRENOBLE. An der Region Neckar-Alb kommen die Großen der Film- und Comicszene offenbar nicht vorbei. Hollywood-Starregisseur Gore Verbinski ließ 2016 auf dem Burghügel den Horrorfilm »A Cure for Wellness« drehen. Der neue »Asterix«-Zeichner Conrad wählte ein Jahr zuvor für das 36. Abenteuer »Der Papyrus des Cäsar« die Villa Rustica vom Freilichtmuseum in Hechingen-Stein als Vorlage für eine Szene im Comic aus. Der franko-belgische Starautor Yann (Lucky Luke) hat das Nachbarstädtchen Haigerloch und den Atomkeller zum Schauplatz in seiner Antikriegsserie »Bärenzahn« auserkoren.
Es war also eine Frage der Zeit, bis auch Schloss Lichtenstein seinen Weg in eine Comicgeschichte finden würde. Die in Frankreich zu den Großen der Künstlerszene zählenden Autoren Didier Convard und Jean-Christophe Thibert bedienten sich dem in Stein erbauten schwäbischen Mittelalter-Traum als Ereignisort für ihre Abenteuerdetektiv-Serie »Kaplan & Masson«.
An Tim und Struppi angelehnt
Die beiden Franzosen sind meisterhafte Vertreter der als Ligne claire (»klare Linie«) bezeichneten Stilrichtung im Comic. Das auch »Belgische Schule« genannte Genre orientiert sich an Hergés Erfolgsreihe Tim und Struppi. Convar, 1950 in Paris geboren, wirkte an in Millionenauflage erschienenen Bestsellern wie »Blake und Mortimer« mit. Er schuf mit »Das geheime Dreieck« einen Verschwörungs-Thriller um die Aufdeckung eines vom Vatikan unter Verschluss gehaltenen fünften Evangeliums. Nach der Comic-Veröffentlichung wurde er exkommuniziert. Thibert, 1969 in Dole (Jura) geboren, gestaltete Kaplan & Masson nach dem Drehbuch Convards. Im ersten Band »Die Chaostheorie« (bei Glénat in Grenoble, deutsch im Carlsen Verlag) knüpft der Zeichner an die goldenen 1950er Jahre der franko-belgischen Comicklassiker.
Die Story spielt Mitte der fünfziger Jahre. Unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe wollen mehrere Physiker, darunter Nathan Masson, eine pazifistische Organisation gründen. Nachdem ein Attentäter die Friedensinitiative aufmischt, schaltet sich Colonel Étienne Kaplan vom französischen Geheimdienst in die Ermittlungen ein. Es kommt zu einer Konferenz im kanadischen Horsewhite (Anagramm zu Whitehorse bei Yukon). Dort tagen die Teilnehmer in einem Schloss, das unserem Hauff’schen Lichtenstein zum Verwechseln ähnlich sieht.
Fotografien als Vorlage
In drei Panels lässt sich unschwer erkennen, dass der Zeichner in seinem rund 1.000 Kilometer vom Echaztal entfernten Wohnort Angers zweifelsohne Fotografien des schwäbischen Märchenschlosses als Vorlage verwendet hat. Weil es eines der meistfotografierten Motive ist, lässt sich freilich die Urheberschaft nicht feststellen. Während es bei uns am Albtrauf thront, steht es im Comic im Hochgebirge des Yukon-Territoriums.
Die Anleihe aus dem Kreis Reutlingen dürfte der französischen Leserschaft wahrscheinlich nicht aufgefallen sein, zählt das Land doch über 40.000 Schlösser und Burgen. Zweifelsohne müsste aber doch Comic-Lesern aus Lichtensteins Partnergemeinde Voreppe oder Pfullingens Partnerstadt Passy die zeichnerische Aneignung in »La théorie du Chaos« aufgefallen sein. Die Leser mussten sieben Jahre warten, bis im Jahr 2016, Band 2 erschien, in dem der Lichtenstein aber keine Rolle mehr spielte. Die Hoffnung auf einen dritten Band in diesem Jahr wurde enttäuscht, nachdem sich das Autorenduo entschlossen hatte, die Reihe nicht fortzuführen. (GEA)