ENINGEN. Auf den Schock über das verheerende Erdbeben am 6. Februar folgte sofort die Reaktion: Direkt und ohne Umwege startete der weltweit verzweigten Familienclan, der im Cneydo Seh-Hanna Sozial- und Kulturverein zusammengeschlossen ist, dank seines engmaschigen persönlichen Netzwerks schon kurz nach Bekanntwerden der immensen Schäden in der Region Hatay erste Hilfsaktionen mit Basis in Istanbul. Familienmitglieder vor Ort nahmen die Organisation in die Hand, das orthodoxe Patriarchat von Konstantinopel unterstützte das ehrenamtlich agierende Familienteam. Dessen Mitglieder hatten in einer beispiellosen Aktion nicht nur selbst gespendet, sondern auch zahlreiche Freunde und Bekannte sowie Kollegen dazu animiert – unter anderem hatte Corc Berber die Samstags-Einnahmen seines BarberDeLuxe-Shops in Metzingen gespendet (der GEA berichtete).
»Die Menschen sollen wissen, wo die Spenden landen«
Innerhalb von zwei Wochen seien 47 000 Euro zusammengekommen, sagt sein Cousin Nasir Acikgöz, auch viele Menschen aus der Region hätten zu dieser hohen Spendensumme beigetragen. Innerhalb der Familie habe das eine Menge an Aktivitäten ausgelöst – unter anderem wird ein Internetauftritt gestaltet: »Die Menschen sollen wissen, wo die Spenden landen«, betont Acikgöz, absolute Transparenz sei dem Cneydo Seh-Hanna Sozial- und Kulturverein wichtig.
Den hatte der Familienclan im Dezember 2021 gegründet, um seine Kontakte und Aktionen offiziell zu bündeln und für den Erhalt von Kultur, Sprache, Identität und Bräuche der Familie zu sorgen. Dem Clan gehören knapp 1 000 Menschen in 227 Familien an. Sie alle haben ihre Wurzeln in der vom Erdbeben besonders betroffenen Region Hatay, ausgehend von vier Brüdern – die Familie gehört zur christlichen Minderheit.
Noch immer seien die Zustände in der Region um die Stadt Antakya katastrophal: Mehr als 50 Prozent der Häuser liegen in Trümmern und die meisten verbliebenen sind nicht bewohnbar – wer geblieben ist, lebt in Zeltstädten. In der Region leben Menschen der unterschiedlichsten Kulturen und Religionen friedlich miteinander. Dort werde nichts mehr so sein, wie es einmal war: »Das tut mir sehr weh«, erklärt Fuat Demir, Vorsitzender des Cneydo Seh-Hanna Sozial- und Kulturvereins mit Sitz in Eningen. Bei ihm laufen die familiären Kontakte zusammen, der Vernetzungsgrad über die sozialen Medien ist groß: Bis heute schicken Familienmitglieder Videos und Bilder aus dem Erdbebengebiet, die das Ausmaß der Schäden erst so richtig deutlich machen.
Der Eninger ist auch in engem Kontakt zu den Kirchengemeinden in der Region, die bei der Verteilung der Hilfsgüter unterstützen, denn unabhängig von der Religionszugehörigkeit wird allen bedürftigen Menschen geholfen. Weil in der Region Trinkwasser fehlt, hat der Verein über sein privates Netzwerk kurzfristig reagiert und am 16. März einen Lkw mit Wasser in die Region geschickt. »Wir haben das so organisiert, dass immer jemand von hier mit dabei ist«, erklärt Demir. Alle ehrenamtlichen Helfer aus der Familie übernehmen ihre Kosten selbst – die Spenden würden dadurch eins zu eins bei den Bedürftigen ankommen.
Darüber hinaus hat der Sozial- und Kulturverein der christlichen Gemeinde in der Stadt Mersin, die nicht vom Erdbeben betroffen ist, 5 000 Euro zur Verfügung gestellt: Dort sind rund 700 Menschen aus der Erdbebenregion aufgenommen worden.
»Vielen Menschen dort geht es richtig schlecht«
In Hatay ist ein normales Leben immer noch nicht möglich und wird es auf lange Zeit auch nicht sein. Viele Menschen haben alles verloren – auch Angehörige. »Unseren Familienmitglieder, die noch dort unten leben, geht es relativ gut«, sagt Nasir Acikgöz, »vielen anderen Menschen geht es aber richtig schlecht.«
Deshalb möchte der Familien-Verein nun seine Hilfe auf neue Beine stellen und startet unter dem Motto »Eine Spende = ein Leben« ein Unterstützungsprogramm für Familien. Betroffenen Familien soll organisatorisch, finanziell und auch psychologisch geholfen werden, damit sie ihr Leben und – in einem nächsten Schritt – auch ihren Lebensunterhalt wieder selbst stemmen können. Das soll über ein Patenschaftssystem realisiert werden, die bedürftigen Familien müssen entsprechende Nachweise bringen.
Farut Demir hält von Eningen aus persönlichen Kontakt zu ihnen. In der Region herrsche Stillstand: »Die Hilfe muss aber weitergehen.« Deshalb freuten sich Onkel und Neffe sehr über eine im Rahmen des Pressegesprächs überraschend überreichte Spende der Volksbank Reutlingen in Höhe von 3 000 Euro.
Zudem organisiert der Cneydo Seh-Hanna Sozial- und Kulturverein am kommenden Samstag, 22. April, eine Spendenaktion auf dem Eninger Rathausplatz, unterstützt von der bürgerlichen und den kirchlichen Gemeinden. Dann werden unter anderem kulinarische Spezialitäten aus der Region Hatay verkauft, Informationen über die Spendenaktion und das Erdbebengebiet wird es aus erster Hand geben. (GEA)