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Heimatbuch der anderen Art: Georg Tetmeyer liest in Pfullingen aus Buch »Kontrafakturen«

Im Rahmen eines Projekts für die Aktion »Schule als Staat« im Juli haben Schülerinnen und Schüler des Friedrich-Schiller-Gymnasi
Im Rahmen eines Projekts für die Aktion »Schule als Staat« im Juli haben Schülerinnen und Schüler des Friedrich-Schiller-Gymnasiums (FSG) HAP Grieshabers Werk »Alb« (unten), das eine Wand in einem Aufenthaltsraum des FSG ziert, als Frottage mit Wachskreiden farbig gestaltet. Weitere ausgewählte Einzelmotive der Schieferwand sollen während der Aktionstage ebenso gestaltet werden. FOTO: BURGEMEISTER
Im Rahmen eines Projekts für die Aktion »Schule als Staat« im Juli haben Schülerinnen und Schüler des Friedrich-Schiller-Gymnasiums (FSG) HAP Grieshabers Werk »Alb« (unten), das eine Wand in einem Aufenthaltsraum des FSG ziert, als Frottage mit Wachskreiden farbig gestaltet. Weitere ausgewählte Einzelmotive der Schieferwand sollen während der Aktionstage ebenso gestaltet werden. FOTO: BURGEMEISTER

PFULLINGEN. Einen informativen und vergnüglichen Abend bereitete Georg Tetmeyer den Zuhörern in der Pfullinger Stadtbücherei am Mittwochabend, als er beim Lesen aus seinem Buch »Kontrafakturen – Kunst, Literatur, Philosophie und starke Frauen in Pfullingen« Impulse zur Eröffnung des neuen Kulturhauses Klosterkirche lieferte.

»Text und Bild bringen sich gegenseitig zum Sprechen«, sagt Georg Tetmeyer, Lehrer am Friedrich-Schiller-Gymnasium (FSG), und taucht umgehend in die Pfullinger Kulturwelt ein. Sein Anknüpfungspunkt ist ein drei mal sieben Meter großes Werk aus Schiefertafeln zum Thema »Alb«, das der Eninger Künstler HAP Grieshaber 1957 dem Pfullinger Gymnasium überlassen hat und an dem, so Tetmeyer, wegen seiner schwarz-grauen Tönung Generationen von Schülern und Lehrern gleichermaßen unbeachtet vorbeigegangen sind. Ganz anders sieht die aktuelle Version aus, von Schülerinnen und Schülern mit farbiger Wachskreide auf Papier abgepaust.

Philosophie regionalisieren

Tetmeyer wagt sich an eine Interpretation des zwölf Jahre nach Kriegsende entstandenen Werks: »Das Leid des Kriegs ist noch spürbar, viel größer ist aber die Sehnsucht nach Glück, die Achalm erscheint als Insel des Friedens.« Tetmeyers Heimatbuch der etwas anderen Art ist aus einem Vortrag zum Thema »Vom Kloster zum Kulturhaus« entstanden. »Mir geht es nicht darum, Philosophie zu popularisieren, sondern die Philosophie zu regionalisieren, sie an die lokalen Gegebenheiten zurückzubinden und vom Besonderen der Stadt ausgehend das Allgemeine aufzuzeigen. Verankerung im Lokalen schafft Bodenhaftung«, betont Tetmeyer.

Er plädiert dafür, den heimatlichen Raum kulturell weiterzuentwickeln und als bewusst gestaltete, moderne Kontrafaktur den virtuellen Welten der jungen Generation gegenüberzustellen.

Er will keine Utopie (ein Entwurf für keinen Ort), sondern eine Entopie (ein Entwurf für diesen Ort hier und jetzt), zitiert er aus dem Vorwort seines Buchs. Was er damit meint, wird schnell klar, als er von der aus Beton gegossenen Skulptur spricht, die lange Jahre vor dem Neske-Haus mit Kindergarten gleich neben dem neuen Kulturhaus stand. Der Frauenakt drohte umzustürzen, wurde vor zwei Jahren vom Bauhof abtransportiert und lagerte seither dort.

Georg Tetmeyer hat Auszüge aus seinem Buch »Kontrafakturen – Kunst, Literatur, Philosophie und starke Frauen in Pfullingen« vor-
Georg Tetmeyer hat Auszüge aus seinem Buch »Kontrafakturen – Kunst, Literatur, Philosophie und starke Frauen in Pfullingen« vor-gestellt. FOTO: RUOF
Georg Tetmeyer hat Auszüge aus seinem Buch »Kontrafakturen – Kunst, Literatur, Philosophie und starke Frauen in Pfullingen« vor-gestellt. FOTO: RUOF

Dieser Akt in elastischer, offener Pose stand, so Tetmeyer, nicht zufällig da, sondern provokant ausgerichtet, der mittelalterlichen Klosterkirche zugewandt. »Der Klostergarten ist ein frauengeschichtlicher Ort. Die Tänzerin steht offenbar für die Befreiung des weiblichen Körpers von einengender Bevormundung durch Kirche und Gesellschaft«, erklärt Tetmeyer. Nach eingehender Recherche erfuhr Tetmeyer Anfang des Jahres, dass es sich um einen 1927 entstandenen Frauen-Akt von Otto Baum handelt, einem von den Nazis verfemten Künstler.

Mittlerweile hat die Stadt reagiert, die Bedeutung des Werks erkannt und eine Restaurierung zum 100-Jahr-Jubiläum sei vorstellbar.

Mit einem zweiten Beispiel schlägt Tetmeyer einen besonders amüsanten Bogen: Er stellt die 1903 vom Architekten Theodor Fischer entworfene Dorfkirche in Gaggstatt mit ihren weißen Doppeltürmen dem 1906 von Fischer entworfenen Pfullinger Schönbergturm gegenüber.

Schönbergturm: ein Rollfilm?

Der Turm wurde 1906 in einer Zeit erbaut, als nicht nur viele Aussichtstürme entstanden, sondern als die Menschen auch weiter in den Luftraum vordrangen, so der Autor. Die Aussichtsplattform mit ihren Apsiden nimmt die später für Zeppeline so typische Form der Passagierkabine vorweg. Außerdem erinnerten die beiden behelmten Türme mit ihrem umlaufenden Fensterband noch an eine andere technische Neuerung der damaligen Zeit: Die Kodak Boxkamera, in der erstmals ein Rollfilm eingelegt werden konnte. »In der Tat kann man die beiden Schönbergtürme als Rollen und die umlaufende Fenstergalerie als endlos durchlaufenden Rollfilm sehen.«

Fischer mache uns mit seiner Architektur die Subjektivität unserer Wahrnehmung bewusst, wobei damit nicht Beliebigkeit gemeint sei, sondern subjektive Gesetzmäßigkeit: »Es sind die durch uns selbst – nicht durch die Landschaft – gegebenen Bedingungen unter denen wir unsere Eindrücke gewinnen.«

Eins steht jedenfalls fest: Der alte Spitzname für den Schönbergturm hat ausgedient. Künftig heißt es »Unser Pfullinger Luftschiff«.

Georg Tetmeyers Buch ist im örtlichen Buchhandel erhältlich. (GEA)