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Aktuell Geschichte

Als Flüchtlinge und Vertriebene nach Pfullingen kamen

Schon bald nach Kriegsbeginn gab es Einquartierungen in Pfullingen

Anfang der 50er-Jahre errichtete die Baugenossenschaft Pfullingen neue Siedlungen, wie hier in der Weinbergstraße, vor allem für
Anfang der 50er-Jahre errichtete die Baugenossenschaft Pfullingen neue Siedlungen, wie hier in der Weinbergstraße, vor allem für die neuen Bürger aus dem Osten. FOTO: STADT
Anfang der 50er-Jahre errichtete die Baugenossenschaft Pfullingen neue Siedlungen, wie hier in der Weinbergstraße, vor allem für die neuen Bürger aus dem Osten. FOTO: STADT

PFULLINGEN. Flüchtlinge kamen nicht erst gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in der Region und auch in Pfullingen an. Schon gleich nach Kriegsbeginn gab es die ersten Einquartierungen in der Stadt. Das schrieb Adolf Schorp 1982 in einem Beitrag für das Buch »Pfullingen einst und jetzt«, herausgegeben von Hermann Fischer, Brigitte Neske und Hermann Taigel.

900 Frauen und Kindern aus Rastatt wurden schon im Herbst 1939 für sechs Wochen auf Pfullinger Haushalte verteilt. Manche Pfullinger Hausfrau hatte zum ersten Mal in ihrem Leben für längere Zeit Besuch, berichtete Schorp. Mancher fiel es deshalb schwer, sich an diesen neuen Zustand und an die andersartigen Menschen zu gewöhnen. Schon das tägliche Make-up des ungebetenen Gastes – für damalige Pfullinger Verhältnisse noch etwas ganz Schlimmes – war ein Grund zum »Dra-na-schwätza« (darüber reden).

Als die Alliierten den Luftkrieg in der zweiten Kriegshälfte intensivierten, wurden Teile der Zivilbevölkerung aus luftkriegsgefährdeten Gebieten vorbeugend evakuiert. Allein aus Stuttgart und Pforzheim fanden ab 1943 etwa 300 Personen, überwiegend Frauen und Kinder, in Pfullingen Unterschlupf.

Zum Kriegsende 1945 lebten, zum großen Teil in beschlagnahmten Wohnräumen, 704 vom Krieg verjagte Menschen in Pfullingen, darunter auch schon die ersten Flüchtlinge aus dem Osten. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches kehrten fast alle Evakuierten wieder zurück in ihre Heimatstädte.

Dafür erreichte nun der Strom der aus dem Osten Vertriebenen auch die Region. In Pfullingen waren 1947 knapp 500 Neubürger registriert. »Neubürger«, das war die optimistisch klingende, offizielle Bezeichnung für Menschen, die oft unter unsäglichen Strapazen vor den russischen Truppen geflohen oder aus ihrem Haus und Hof vertrieben worden waren. In den nächsten zwei Jahren kamen 538 Personen in der Echazstadt an, sodass Ende 1949 die Zahl der Menschen, die eine neue Heimat suchten, auf 1 036 angewachsen war. Am Stärksten war der Zuzug dann in den Jahren 1950 bis 1952.

Untergebracht waren die Heimatvertriebenen zunächst in Baracken westlich der Pfullinger Hallen, die während des Krieges als Unterkünfte für russische Kriegsgefangene gedient hatten. Daran erinnert Helmut Bader in seiner Broschüre »Pfullinger Zeitzeugnisse«, die er zusammen mit dem Geschichtsverein 2008 herausgegeben hat. »Nach Jahren der extremen Belegung fanden sich in den Behausungen Läuse, Flöhe und sonstiges Ungeziefer«, schreibt er. Als die Baracken nicht mehr gebraucht wurden und abgerissen werden sollten, nutzte die Pfullinger Feuerwehr sie für eine Brandübung unter realistischen Bedingungen.

Die Einwohnerzahl Pfullingens stieg von 9 453 Personen im Jahr 1946 auf 12 530 Personen im Jahr 1956. Nur in diesen beiden Jahren ist in der fraglichen Zeit die Gesamtbevölkerungszahl ermittelt worden, führt Schorp in seinem Text aus.

Die Flüchtlinge und Vertriebenen, die nun in Pfullingen lebten, galten als fleißig und rechtschaffen. Und sie waren die patriarchalische Ordnung gewohnt. Viele Erwachsenen waren dunkel gekleidet, die Frauen stets mit Schürze und schwarzem Kopftuch – man nannte sie deshalb bald »Tüchlesweiber«. Die jungen Leute waren überaus gelehrig.

Sie jammerten nicht, sondern langten kräftig und geschickt zu, wo sie Geld verdienen konnten: die Männer hauptsächlich im Baugewerbe, die Frauen und Mädchen in der Textilindustrie. Sie wollten wieder Boden unter die Füße bekommen, wieder eine eigene Wohnung, einen eigenen Garten ihr Eigen nennen. Etwa ab 1959 begannen die neuen Bürger, sich eigene Häuser zu bauen: Am Ahlbohl, im Hägle, im Burgweg.

In den 25 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Stadt Pfullingen in Bewegung geraten wie nie zuvor, heißt es weiter im Bericht von Schorp. Selbst die Erschütterungen der Industrialisierung waren für den Ortsansässigen überschaubarer als diese Zeit, in der einem riesigen Wirtschaftsboom der Zerfall traditionsreicher Betriebsimperien – man denke an Burkhardt oder Wendler – folgte.

Weil die neuen Bürger andere Traditionen, Gewohnheiten und auch den katholischen Glauben mitbrachten, der im protestantischen Württemberg bis dahin keine große Rolle gespielt hatte, betrachteten die Einheimischen sie bisweilen mit Skepsis und Vorbehalten. Plötzlich gab es ganze Stadtteile mit Bewohner, die sie nicht mehr persönlich kannten. (GEA)

SCHAUPLÄTZE

Markante Ereignisse und Schauplätze in Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Pfullingen stellt der GEA in einer kleinen Serie in lockerer Folge vor. Sie basiert auf den Aufzeichnungen von Zeitzeugen und Pfullinger Historikern, die Waltraud Pustal, Vorsitzende des Pfullinger Geschichtsvereins, zusammengestellt hat. (ps)