METZINGEN. »Das ist er«, sagt Olga Baegerau mit einem breiten Lächeln im Gesicht und hebt - im Rollstuhl sitzend - den Kleiderbügel hoch, auf dem ein medizinischer Anzug hängt. Der sogenannte »Exopulse Molli Anzug« ist für Menschen ausgerichtet, die unter Multipler Sklerose (MS) leiden. Es gleicht schon fast einem kleinen Wunder: Wenn die Metzingerin MS-Patientin ihn trägt, wird ihre Körperhaltung stabiler und sie kann sich einfacher bewegen. Auch ihr Gleichgewicht kann sie beim Stehen deutlich besser halten. »Ich habe mehr Kraft«, sagt sie überzeugt. Dazu tragen Elektroden bei, die so auf dem Anzug positioniert sind, dass sie Baegeraus verkrampfte Muskeln entspannen. »Die Muskelstimulation tut nicht weh und kitzelt auch nicht. Nur ganz am Anfang hat es sich so angefühlt, als ob auf den betroffenen Körperstellen Ameisen krabbeln würden.«
Die 42-Jährige trägt den Anzug täglich eine Stunde. Ob abends vor dem Schlafengehen oder am tagsüber: Sie darf es sich aussuchen, wann sie ihn anzieht. Diese eine Stunde reiche aus, um die positive Wirkung für viele Stunden aufrechtzuerhalten, berichtet sie. »Der Anzug kann MS zwar nicht heilen, macht aber mit seiner positiven Wirkung mein Leben leichter. Ich kann die Treppe besser bewältigen, spüre mehr meine Beine.«
Den Anzug gibt erst seit Kurzem auf dem Markt. Entwickelt wurde er von dem schwedischen Chiropraktiker Fredrik Lundqvist. Baegerau erfuhr von dem medizinischen Hilfsmittel im Internet. Doch als sie sich über die Kosten informierte, stockte ihr erstmal der Atem. Das gute Teil kostet rund 9.000 Euro. »Viermal lehnte die Krankenkasse eine vierwöchige Testphase in Höhe von 2.500 Euro ab«, erzählt Baegerau enttäuscht. »Und das, obwohl ich mit einem Vorher-Nachher-Video beweisen konnte, wie gut mir der Anzug tut.«
Mit einem Spendenaufruf zum Ziel
Da sie nicht aufgeben wollte, startete sie einen Spendenaufruf. Sie machte auf Facebook ihre Freunde und Bekannte auf ihr Anliegen aufmerksam und verteilte nebenbei noch Flyer. Nachdem sie an die Öffentlichkeit gegangen war, kam etwa innerhalb zwei Monate die erwünschte Summe zusammen. »Nie im Leben hätte ich mir gedacht, dass das passieren würde«, sagt die Mutter einer elfjährigen Tochter und eines sechsjährigen Sohnes. »Ich musste mich überwinden, um finanzielle Unterstützung anzunehmen, habe mich anfangs sogar dafür geschämt, doch inzwischen bin ich stolz, den Schritt gewagt zu haben.«
Baegerau bekam die MS-Diagnose mit 21. Die ersten Symptome machten sich an ihren Füßen bemerkbar. Immer wieder stolperte sie. »Ich habe plötzlich meine Füße nicht mehr hochbekommen, bin über den Boden geschleift. Als junge Frau habe ich sehr gern Stöckelschuhe getragen. Das ging dann natürlich nicht mehr.« Nach mehreren Untersuchungen war klar: Schuld am unsicheren Gehen war MS. »Ich war schockiert und musste erstmal damit klarkommen. Als ich die Krankheit gegoogelt habe, sind lauter Bilder von Rollstühlen auf dem Bildschirm erschienen.« Psychisch habe sie das sehr mitgenommen, erinnert sie sich.
Der Kopf funktioniert, der Körper nicht
»Weil es mir aber noch gut ging und ich auch keine Schmerzen hatte, versuchte ich so gut es ging mein Leben einfach weiterzuleben.« Acht Jahre arbeitete sie weiterhin als Bäckereifachverkäuferin. Irgendwann hatte sie nicht mehr die Kraft, stundenlang zu stehen und machte eine Umschulung zur Bürokauffrau. Dann lernte sie ihren Mann kennen und zog der Liebe wegen aus Freudenstadt nach Metzingen. »Eigentlich wollte ich nicht heiraten und auch keine Kinder bekommen, doch das änderte sich und darüber bin ich froh«, berichtet sie. Trotz ihrer unheilbaren Krankheit verliefen ihre zwei Schwangerschaften reibungslos.
Vieles hat sich im Laufe der Jahre im Leben der Metzingerin verändert. Inzwischen besitzt sie einen Behindertenausweis. »Ich habe mein Auto behindertengerecht umbauen lassen.« Sie arbeitet mittlerweile nicht mehr. Ihre Beine fühlen sich immer steifer an. Wenn sie in ihrer Wohnung ein paar Schritte geht, braucht sie eine Stütze. Sie ist auf einen Rollator angewiesen und seit Ostern auf einen Rollstuhl, weil sie einen Wadenbeinbruch hatte. Doch sie gibt nicht auf. Die Treppenstufen, die zu ihrer Wohnung führen, meistert sie noch alleine. Doch das ist ein gefährlicher Kraftakt. Daher ist sie mit ihrer Familie schon länger auf der Suche nach einer barrierefreien Wohnung in Metzingen und Umgebung. »Ich würde mich sehr freuen, wenn wir fündig werden würden.«
Pferdetherapie soll die Rumpfmuskulatur stärken
Zwar hat Baegerau in ihrem Alltag mit den Folgen ihrer unheilbaren Krankheit zu kämpfen, doch sie versucht das Beste daraus zu machen: »Meine Arme und Hände funktionieren gut. Damit das so bleibt, trainiere ich regelmäßig.« Krankengymnastik ist ein großer Bestandteil ihres Lebens. Bald möchte sie eine Hippotherapie machen. Der Patient sitzt bei der Therapie auf einem Pferd. »Mit leichten Bewegungen wird dann die Rumpfmuskulatur gekräftigt«, erläutert sie. »Für mich symbolisiert der Rumpf den Stamm eines Baums, die Arme und Beine vergleiche ich mit Ästen. Wenn der Stamm nicht gesund ist, wirkt sich das negativ auf die Äste aus.«
Die Metzingerin versucht positiv zu bleiben, doch es gelinge ihr nicht immer, gesteht sie. »Das Schlimmste an der Krankheit ist, dass zwar der Kopf funktioniert, aber der Körper eben nicht. Manchmal denke, ich kann gewisse Dinge noch tun, aber dann klappt es doch nicht. Das kann einen zum Verzweifeln bringen.« (GEA)