WALDDORFHÄSLACH. Die Jagd war ihre Leidenschaft. Die Männer zogen nahe Walddorf wie häufig durch den Schönbuch mit ihren Gewehren. Auf der Suche nach Wild. Drei Brüder aus der Adelsfamilie der Freiherrn von Tessin. Plötzlich fiel ein Schuss. Als der Schall des Knalls verhallt war, lag einer der Männer am Boden, in seinem Blut. Tot. War es ein Unglücksfall oder war es gar Mord? Geschehen ist dies am 4. August 1924. Vor genau 100 Jahren.
Am Ort des Geschehens mitten im Schönbuch, abseits des Weges, einsam und verlassen, steht ein Denkmal. Der Tessinstein. Vermutlich wurde er damals nach dem schrecklichen Geschehen von der Familie des Toten errichtet. Auf dem Stein steht: »Im Walde war liebstes Leben für mich/Mein Sterben auch – wie ich das Wild beschlich/Nun Hubertus bitt! Ruh für mich/Walter Frhr. von Tessin-Hochdorf/gestorben den 4. August 1924«.
Was ist wahr, was Legende?
Was ist nun wirklich passiert an jenem Tag? Der Walddorfhäslacher Oliver Wezel begeistert sich schon viele Jahre für die Historie seines Ortes und der Umgebung drum herum. Viele Stunden hat er bereits in Archiven zugebracht. Hat Artikel verfasst, die in Festbüchern veröffentlicht wurden. Auch jetzt hat er sich, auf Bitte des GEA, aufgemacht, um herauszufinden, was sich an jenem 4. August 1924 unweit von Walddorf mitten Wald zugetragen hat. Und er hat Erstaunliches ans Tageslicht gefördert.
Auch wenn es damals noch keine Sozialen Medien gab, die Kunde von dem Todesfall im Wald machte schnell die Runde. Und es bildeten sich, wie es sicher heute auch der Fall wäre, sofort irgendwelche Legenden, bei denen nicht alles stimmt, »aber immer auch etwas Wahres drinsteckt«, meint Wezel.
Als Erstes hat der Walddorfer Ortshistoriker eine Todesanzeige von 1924 im »Schwäbischen Merkur« entdeckt. In der steht: »Infolge Unglücksfall auf seiner Jagd verschied am 4. 8. mein innigstgeliebter Mann Walter Freiherr v. Tessin, Majoratsherr auf Schloss Hochdorf.« Aufgegeben hat die Anzeige die Frau des Getöteten, Alice Freifrau von Tessin, eine geborene Krausse, mit Sohn Hubertus.
Dazu muss man wissen, dass sich die Adelsfamilie der Tessiner damals in zwei Zweige aufgeteilt hatte. Die eine residierte weiter im Schloss in Kilchberg, wo sie bis heute lebt. Der andere Zweig ließ sich in Hochdorf bei Vaihingen/Enz nieder. Der Getötete hatte dort seine Heimat, hatte aber noch starke Bindungen in die hiesige Gegend. So war er eben auch Jagdpächter des Gebietes bei Walddorf, in dem das Unglück geschah.
Wie man aus der Todesanzeige entnehmen kann, hieß es anfangs, es habe sich bei dem Geschehen um einen Unglücksfall gehandelt. Die landläufige Auffassung war, dass Walter Freiherr von Tessin sein Gewehr an einen seiner Brüder übergeben habe. Dabei habe sich ein Schuss gelöst, weil das Gewehr nicht gesichert gewesen sei. Der Schuss traf Walter von Tessin tödlich.
Mordprozess vor dem Tübinger Landgericht
Zwei Jahre hielt diese Version an. Doch dann kamen Zweifel an der Geschichte auf. Einmal ausgelöst durch Briefe, die sich Alice, die Frau des Getöteten, und dessen Bruder Manfred von Tessin, der bei dem tödlichen Schuss im Schönbuch dabei gewesen war, noch zu Lebzeiten Walters heimlich geschrieben hatten. Diese glühenden Briefe ließen auf ein Verhältnis zwischen Alice und Manfred schließen, was später noch zu einem wichtigen Thema werden sollte.
Aber vor allem eine Bemerkung Manfreds, die ihm herausgerutscht sein soll, als er sich über einen Verwandten sehr geärgert hatte, spielte eine große Rolle. Manfred habe diesen Verwandten bedroht, ihn zu töten, »so wie ich meinen Bruder getötet habe«, will ein Zeuge mitbekommen haben.
Und in der Tat, im Januar 1926 gab es vor dem Tübinger Landgericht einen Prozess. Angeklagt wegen Mordes, so sah es jedenfalls die Staatsanwaltschaft, waren Manfred von Tessin und wegen Beihilfe ein jüngerer Halbbruder, der damals ebenfalls bei dem tödlichen Schuss im Schönbuch vor Ort gewesen war.
Schuss in den Rücken
Oliver Wezel fand zu dem Prozess im Württembergischen Landesarchiv alte Artikel von 1926, die im »Stuttgarter Neues Tagblatt« und in der »Schwäbischen Kronik« abgedruckt worden waren. In der Anklage hieß es, so steht es zumindest in einem der Artikel, dass die Staatsanwaltschaft der Meinung sei, dass Manfred von Tessin »seinen Bruder Walter am 4. August 1924 durch einen Schuss in den Rücken ermordet habe«, während der jüngere Halbbruder durch »vorherige Zustimmung die Tat wesentlich begünstigt habe«.
Der angeklagte Manfred von Tessin bestritt in dem Prozess, dass er seinen Bruder ermordet habe. Wie der Schuss gefallen sei, wisse er nicht. Er habe nur gesehen, dass sein Halbbruder, »nachdem ein Schuss gefallen ist, weggelaufen sei«. So steht es im »Stuttgarter Neues Tagblatt«. Zur engen Beziehung zu Walters Ehefrau Alice, erklärte Manfred von Tessin, dass sie »rein freundschaftlicher Natur« gewesen sei.
Eine glühende Liebesgeschichte
Dies nahm ihm der Richter allerdings nicht ab. Die Briefe zeigten schon mehr als Freundschaft, »sie zeugen von einer glühenden Leidenschaft«. In dem Prozess sagte noch eine Reihe von Zeugen aus. Dabei ging es oft ebenfalls um die Beziehung zwischen Alice und Manfred, die wohl doch ziemlich eng gewesen sein muss. In einem der Briefe von Alice an Manfred stand zum Beispiel: »Wie der Hirsch nach Wasser schreit, so schreit mein Herz nach Dir.«
Interessant sind auch die Gutachten der Sachverständigen. Es zeigten sich dabei durchaus Zweifel an der Version des Angeklagten Manfred von Tessin. Andererseits »bestehe auch die Möglichkeit, dass es so gegangen sei, wie die Angeklagten es darstellten«, meinte ein Medizinalrat. Neben der Liebesgeschichte wurde noch ein weiteres Motiv diskutiert. Dass Manfred seinen Bruder getötet habe, um an das Majorat, sprich den Besitz, zu kommen. Doch dieses Motiv konnte in dem Prozess nicht weiter erhärtet werden.
Stoff für Legenden
Am Schluss des Prozesses stand dann ein Urteil. Und das hieß: "Die beiden Angeklagten werden unter Übernahme der Kosten auf die Staatskasse freigesprochen. Der Haftbefehl wird aufgehoben." Allerdings merkte der Richter an: "An und für sich sei eine Verurteilung des Angeklagten Manfred wohl möglich". Es ergäben sich "ganz gewichtige Momente für den dringenden Verdacht für die Täterschaft des Angeklagten. Auch die Schuld des mitangeklagten Halbbruders sei nicht vollständig beseitigt. Aber offenbar reichten dem Gericht die Beweise für eine Verurteilung der beiden Angeklagten wegen Mordes oder Totschlags nicht aus.
Dass der Prozess damals hohe Wellen schlug, zeigt auch eine andere Fundstelle Wezels. Selbst die Zeitung »The Advocate« in Australien berichtete in einer Meldung über den Prozess unter der Überschrift: »Murder Trial - Sensation in Germany«. In dieser Meldung steht, dass Walter von Tessin bei der Jagd von hinten durch das Herz erschossen worden sei. Nun, was genau an jenem 4. August 1924 im Schönbuch geschah, wird sich sicher nie mehr vollständig aufklären lassen und die Geschichte somit immer Stoff für Legenden bieten. (GEA)