TÜBINGEN. Bei einer Operation in der BG Klinik Tübingen ist es Chirurgen gelungen, Muskelgewebe über sechs Stunden extrakorporal am Leben zu erhalten, also außerhalb des Körpers des Patienten. Das ist Rekord, dass Muskeln so lange nicht mit dem lebenswichtigen Sauerstoff versorgt worden sind. Das hat es zuvor nirgendwo auf der Welt gegeben.
»Ich habe von dem Drama natürlich gar nichts mitbekommen«, erzählt Andreas Bettinger. Mit einiger Anstrengung hebt er sein rechtes Bein, das von einem dicken Verband umhüllt ist. Der 41-jährige Bauarbeiter aus dem baden-württembergischen Fridingen musste mehr als ein Dutzend Operationen über sich ergehen lassen, nachdem ihm bei einem Arbeitsunfall eine hunderte Kilogramm schwere Greifzange das Bein fast vollständig abgetrennt hatte. »Die Ärzte hier in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen sagten mir nachher, wie schwierig alles war«, erzählt Bettinger. »Ich bin glücklich, dass ich mein Bein wieder habe«.
Möglich war das nur durch eine Reihe von Operationen. »Zunächst legten Gefäßchirurgen als Ersatz für die zerrissene Beinarterie einen Bypass, damit dass Bein wieder durchblutet wurde«, erklärt Jonas Kolbenschlag, Plastischer Chirurg an der BG Klinik Tübingen, in der Bettinger behandelt wird. »In den folgenden Operationen wurden Muskeln, Sehnen und Knochen wiederhergestellt.« Die besondere Herausforderung in solchen Fällen sind die beim Unfall zerstörten Gewebeteile. Sie fehlen und müssen ersetzt werden. »Um die rekonstruierten Strukturen zu bedecken, haben wir dem Patienten deshalb den großen Rückenmuskel entnommen«, schildert Kolbenschlag. »Er wurde dann unter dem Mikroskop auf das Bein verpflanzt.«
Doch es kam zu einer Komplikation: Unmittelbar bevor die Blutversorgung wieder angeschlossen werden konnte, verstopften plötzlich Blutgerinnsel den Bypass. »Das ist leider eine sehr typische Komplikation bei solchen Fällen, die unvorhersehbar auftreten kann«, erklärt Kolbenschlag. In der Folge blieben das Bein und der Muskel ohne Blutversorgung und damit ohne den lebenswichtigen Sauerstoff, was besonders bei Muskulatur wie die von Rücken und Bein innerhalb von Minuten bis wenigen Stunden zu bleibenden Schäden führt.
»Das OP-Team stand unter großen Zeitdruck«, schildert Kolbenschlag die dramatische Situation. Das Bein und der Muskel waren akut bedroht. Notgedrungen schloss das Ärzteteam den Muskel außerhalb des Körpers an eine Infusion an, die eine gewisse Sauerstoffzufuhr ermöglichte. »Dann mussten wir uns schnellstmöglich um das Bein kümmern«, sagt Kolbenschlag, »bis wir das wieder in den Griff bekommen und die Blutversorgung wieder hergestellt hatten, dauerte es fast vier Stunden. Schließlich konnten wir auch den Muskel einsetzen.«
Insgesamt hat das 30 Zentimeter lange und zwölf Zentimeter breite Muskelpaket fast sechs Stunden ohne Blutversorgung unbeschadet überdauert. »Das ist Rekordwert, eine extrem lange Zeit. Mit dem Erhalt des Muskels und der Rettung des Beines in dieser Situation haben wir einen ganz besonderen Erfolg errungen, was so bisher noch nicht da war«, betont Jonas Kolbenschlag. »Ich freue mich für Andreas Bettinger, dass wir ihm sein Bein erhalten konnten. Ich hoffe, dass er wie die vielen anderen im Beruf verunfallten Menschen, die wir im Auftrag der Berufsgenossenschaften behandeln und rehabilitieren, wieder erfolgreich ins Arbeitsleben zurückkehren kann.« (GEA)