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Im Wald bei Bad Urach hat der Wind Kunstwerke aus Eis geschaffen

Gerade sind nicht nur im Wald bei Bad Urach ebenso schöne wie bizarre Kunstwerke zu finden. Noch nicht alle Rätsel um Entstehung sind gelöst.

Nichts als Eis: Wenn im Wald viele Faktoren zusammenkommen, bildet die Natur auf verrottenden Ästen solche Kunstwerke.  FOTOS: K
Nichts als Eis: Wenn im Wald viele Faktoren zusammenkommen, bildet die Natur auf verrottenden Ästen solche Kunstwerke. Foto: Günter Künkele
Nichts als Eis: Wenn im Wald viele Faktoren zusammenkommen, bildet die Natur auf verrottenden Ästen solche Kunstwerke.
Foto: Günter Künkele

BAD URACH. An Wintertagen ohne Schneelage kann man beim Spaziergang durch naturbelassene Wälder mit Alt- und Totholz zufällig auf reinweiße Gebilde stoßen. Sie sitzen wie Haarwuschel auf umgestürztem, abgestorbenen Dürrholz, das kreuz und quer auf dem Waldboden liegt. Schon von Weitem heben sie sich im Unterholz vom schneefreien, braunen Laubteppich gut sichtbar ab. Es ist jedoch kein Restschnee. Man könnte vermuten, es handele sich bei dem watteähnlichen Phänomen um eine der zahlreichen Pilzarten, die üblicherweise auf totem und morschem Holz wachsen. Doch weit gefehlt!

Beim Blick aus der Nähe entpuppen sie sich überraschend als selten zu findendes Haareis, das abgebrochenes Astgut in wellenförmigen Bändern flauschigweich umwallt oder ihm eine trendige Scheitelfrisur verpasst. Das Frostphänomen aus hauchfeinen Eishaaren sprießt nur auf totem Holz an rindenfreien Stellen oder wo dessen Borke aufgeplatzt ist. Es besteht aus einer Ansammlung Tausender feinster, eng beieinanderstehender und seidig schimmernder Härchen, die auf rätselhafte Weise herausquellen. Obwohl die skurrilen Eishaarbüschel aus der Oberfläche verrottender Baumstämme und Äste wuchern, kommen sie auf völlig andere Weise als Pilze zustande, wie Wissenschaftler herausgefunden haben. Stichwort Wissenschaft: Noch sind nicht alle Rätsel um die Vorgänge, die zur Bildung der haarigen Naturwunder führen, vollständig gelöst.

Kunstwerke aus dem Friseursalon

Speziell ein Geheimnis ist noch nicht gelüftet: Warum frieren die separat austretenden, dicht stehenden Eisfäden nicht zusammen und verschmelzen miteinander, wie sonst bei Vereisungsvorgängen üblich? Kaum sichtbar, steht jedes einzelne Eisnädelchen vorwiegend berührungslos neben dem anderen. Auch treibt jedes Härchen aus seiner eigenen, winzigen Holzpore. Minimalst getrennt voneinander, bringen sie jedoch wundersam gebündelte Eisskulpturen hervor.

Jedes Exemplar des wenig bekannten Haareises ist in Wuchshöhe, Größe, Form, Design sowie Art und Weise der Umwallung eines Holzstückes ein Unikat. Bizarre Haareiskunstwerke präsentieren sich sehr formenreich und ausdrucksstark: Als dünnfaserige Eiswolle gestrickt, zu eiskalter Zuckerwatte erstarrt, fantasievoll um Äste gewickelt oder Fontänen gleich gefroren. In stets anderer Ausprägung, gewunden, gekämmt oder verwirbelt, erinnern die fantastischen Faserkreationen an flotte Haarmode, die für Trendlooks in Friseursalons typgerecht und stilvoll in menschliches Kopfhaar modelliert werden.

Foto: Günter Künkele
Foto: Günter Künkele

Je nach Fasson, Sitz und Lage am Holz, nach Länge und Kräuselung der seltsamen Wassereishaare und individueller Fantasie der Betrachter ergeben sich Assoziationen an Kraushaar, wilde Haarbüschel, gekämmtes, gescheiteltes oder wirres Haar, lange oder mittellange Strähnen, coole Irokesenschnitte, geordnete Lockenpracht, geflochtene Kordelzöpfe, Toupets oder Perücken. Vor allem anhaltend schwacher Frost erweist sich als genialer Haarkünstler, der abgestorbene und anbrüchige Totholzstücke mit raffinierten Frisuren verschönert und die biegsamen Haareisstränge zu schicken Dauerwellen onduliert.

Auf manchen der am Boden liegenden Holzstücke siedeln zauberhafte, schlohweiße Ausblühungen: Kesse Tollen, die als Strähnen in die Stirn fallend, einst kreativen Twist ins Menschenhaar zaubern sollten und volkstümlich als Schmalzlocken bezeichnet werden, verblüffen ebenso wie Dutts, jene geflochtenen, meist auf dem Hinterkopf getragenen Haarknoten. Manche Eiswollstränge sind in Längsrichtung des Holzes so gekämmt, dass sich die Eishaarsträhnen jeweils zur Seite neigen und mittig einen akkuraten, lockigen Scheitel ziehen.

Das Geheimnis liegt im Inneren

Voraussetzung für die Entstehung dieser eigenartigen Haareiserscheinungen sind jahreszeitlich bestimmte meteorologische Bedingungen sowie spezielle physikalische und organische Prozesse in nassem Holz. Nadelförmige Raureifkristalle und hauchdünnes Haareis sind beides Frostkinder. Während jedoch Raureif als fester Niederschlag aus dem Wasserdampf der Luft Eiskristalle bildet, verdanken Eiswollhaare ihren Ursprung der Wassersättigung im Inneren eines Holzstückes. Häufig findet man die raffinierten Waldaccessoires auf borkenlosem, nacktem Altholz, das ein bestimmtes Zersetzungsstadium aufweist. Bevorzugt werden Laubbaumarten wie Rotbuche, Eiche oder Birke. Die Initialzündung für mögliches Wachstum von Eishaaren beginnt mit einem Wetterwechsel und einer Temperaturabsenkung in schwache Frostgrade: Auf eine Regenperiode und nasskalte Tage mit Tauwetter, an denen aufgrund von Warmluftzufuhr milde Lufttemperaturen über dem Nullpunkt liegen, müssen Tage und Nächte mit leicht abgesenkten, bodennahen Lufttemperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt folgen. Nur haarscharf an diesem Übergang von Plus- zu milden Minustemperaturen ist es möglich, dass das aus dem durchfeuchteten, aber nicht gefrorenen Inneren des Totholzes ins Freie austretende Wasser zu haarfeinen Eisfäden erstarren kann. Bei sinkender Temperatur verlangsamt sich die Geschwindigkeit ihres Wachstums. Gänzlich zum Erliegen kommt es, wenn bei tiefen Minusgraden die Hölzer durchfrieren, ihr Innenwasser zu Eis erstarrt und nicht mehr ausdünsten kann.

Nur 0,02 Millimeter dicke Haare

Wenn die winterlichen Bedingungen für das Wachstum der eisigen Haarpracht geeignet sind, schieben wie von Zauberhand über Nacht Hunderte hauchdünne, nur 0,02 Millimeter dicke und bis zu 15 Zentimeter lange Eisfäden erstaunlich schnell aus dem durchnässten Holz. Pro Stunde wachsen sie bis etwa einen Zentimeter in die Länge.

Die Ursachen, warum die dünnen Einzelfäden bei Temperaturen um den Schmelzpunkt und minimalstem Abstand zueinander kein kompaktes Eisstück bilden, sind bis heute nicht vollständig enträtselt. Vermutet wird, dass winzigste organische Stoffe auf den Oberflächen der nur Hundertstel Millimeter starken Eisstränge eine Schutzschicht bilden. Offenbar ist sie so wirksam, dass sie ein Zusammenfrieren sogar bei teilweiser Berührung eines Nachbarhärchens verhindert. So schön der eisige Totholzschmuck ist, so zerbrechlich ist er: Wer ein vom zarten Haareiswunder umsäumtes Aststück vom Boden aufhebt, um es in Augenschein zu nehmen, zerstört es unwiederbringlich. Das fragile Naturkunstwerk zerbricht bei geringster Erschütterung in seine einzelnen Eishärchen und fällt ab.

Wie aber kommt es nun zum Austrieb der außergewöhnlichen Wassereisfäden aus dem Holzinneren? Selbst der berühmte Meteorologe, Polarforscher und Geowissenschaftler Alfred Wegener (1880 bis 1930) konnte sich keinen Reim darauf machen. Er hielt die seltsamen Altholzaufsitzer zunächst für eine Art von holzsiedelnden Pilzen, bevor er erkannte, dass es sich um ein Eisprodukt handelte und schimmelähnliche Auslöser vermutete.

Erst seit 15 Jahren weiß man aus biophysikalischen Studien an Haareis an der Universität Bern, dass tatsächlich eine für Laubbäume typische Pilzart, die Rosagetönte Gallertkruste (Exidiopsis effusa) entscheidend für die Entstehung solch haariger Eisphänomene ist. Laut Wissenschaft verlaufen komplizierte chemische und physikalische Prozesse im Holzinneren ab, an denen maßgeblich der Pilz, seine Stoffwechselrückstände, davon herrührende Wärme, Wasser, Gas, Partikel als Kristallisationskeime, Strahlkanäle im Holzinneren, Saugeffekte, Grenzflächenenergie und ein Ausgleich von Ladungsunterschieden zwischen Kristall- und Holzoberfläche beteiligt sind.

Komplexes Wechselspiel

Wie genau manches miteinander agiert, verbirgt sich bis heute im Dunkeln. Das Pilzmyzel ernährt sich vom Holz und gibt Wasser und Mikroreste aus seinem Stoffwechsel, wie beispielsweise Lignin, ab – vor allem aber Kohlendioxidgase, die einen Weg aus dem Holzkern ins Freie suchen. Diese Stoffwechselgase drücken beim Entweichen durch winzigste Holzkanäle Wasser zur Holzoberfläche. An den Austrittsöffnungen trifft es auf kalte Außenluft, gefriert und beginnt zu hauchdünnen Eisfäden zu wachsen. Dies funktioniert jedoch nur, so lange die Poren an der Holzoberfläche nicht zufrieren.

Damit die siebartigen »Austrittsdüsen« nicht verstopfen, werden sie von Abwärme aus der Holzpilzaktivität freigehalten. Wenn es an der Außenluft nicht zu kalt und das Holz nicht durchgefroren ist, fällt aufgrund der Abbauprozesse im Pilzgewebe eine geringe Menge Wärmeenergie an und temperiert die feinst dimensionierten Kanäle vom Holzkern bis zur Mündung.

Wer einmal das Glück hat, im Unterholz solch zauberhaften Naturwundern wie den vielgestaltigen, fragilen und bizarren Haareisformen aus gefrorenem Atem von Holzpilzen zu begegnen, sollte sich bewusst sein, welch außergewöhnliche Umstände und Verhältnisse für den entzückenden winterlichen Haarwuchs notwendig sind. Wer hätte gedacht, dass ein unscheinbarer, totholzbesiedelnder Pilz wie die Rosagetönte Gallertkruste mit ihren warmen Abgasen und Flatulenzen solche, wie Seide schimmernde, eisige Haarbüschel wachsen lässt und pfiffige Frisuren formt? (GEA)