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Eine junge Jesidin und der Genozid: Jihan Alomar erzählt aus ihrem Leben

Die 20-jährige Jihan Alomar ist im Dietrich-Bonhoeffer-Gymasium zu Gast, weil die Geschichte des Völkermords an den Jesiden nicht in Vergessenheit geraten soll. Seit 2016 lebt sie mit einem Teil ihrer Familie in Tübingen, der Vater und ein Bruder werden immer noch vermisst.

Die Hesidin Jihan Alomar (links) liest im Dietrich-Bonheoffer-Gymansium aus ihrem Buch "Dankbarkeit - Die schlimmste Zeit meines
Die Hesidin Jihan Alomar (links) liest im Dietrich-Bonheoffer-Gymansium aus ihrem Buch »Dankbarkeit - Die schlimmste Zeit meines Lebens«, das sie mit Zine Balletshofer vollendet hat Foto: Kirsten Oechsner
Die Hesidin Jihan Alomar (links) liest im Dietrich-Bonheoffer-Gymansium aus ihrem Buch »Dankbarkeit - Die schlimmste Zeit meines Lebens«, das sie mit Zine Balletshofer vollendet hat
Foto: Kirsten Oechsner

METZINGEN. Stille, nichts als Stille. Als der Abspann des aufwühlenden Kurzfilms vorbei ist, regt sich in der Alten Aula des Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasiums unter den rund 40 Abiturienten erst einmal nichts. Zu tief haben sich die Bilder eingebrannt, die Betroffenheit ist greifbar: Die Journalistin Düzzen Tekkal hatte sich im August 2014 mit ihrem Vater auf der Suche nach seiner Heimat und ihren Wurzeln in den Kurdistan aufgemacht, als sie plötzlich zur Kriegsreporterin und Zeugin des Genozids der IS an den Jesiden wurde. Frauen, Kinder und wenige Männer mussten bei extremer Hitze in die Berge flüchten, zu trinken gab es nichts – die Menschen verdursteten, darunter eine schwangere Frau. Dem waren unsägliche Gräueltaten vorangegangen und es folgten weitere – Männer wurden ermordet, Frauen und Mädchen vergewaltigt, Jungen zu Kindersoldaten. Mittendrin im Völkermord die damals Zehnjährige Jihan Alomar. Heute ist sie 20 Jahre alt, lebt in Tübingen, macht derzeit ihr Fachabitur und ist kaum älter als die Schüler, bei denen sie am Freitag zu Gast war und über ihre Geschichte erzählt hat.

Und dann sprudeln sie plötzlich, die Fragen der Zuhörenden über das Leben von Jihan Alomar, das ganz anderes verlaufen ist als das ihre, behütet und in Sicherheit. Zehn Monate erlebte das Mädchen aus der Stadt Sindschar, die am 3. August 2014 von der IS überfallen wurde, mit anderen Familienmitgliedern eine Horror-Gefangenschaft und musste Dinge sehen, die kaum vorstellbar sind. Ihre Mutter habe in dieser Zeit wie eine Löwin um sie und ihre Geschwister gekämpft, denn bereits Mädchen in ihrem Alter wurden verschleppt und vergewaltigt. »Ich habe verschiedene Rollen eingenommen«, erzählt sie den DBG-Abiturienten. Ihre geliebten langen Haare musste sie opfern, um ein Junge zu sein. Sie spielte eine Körperbehinderte oder versteckte sich unter dem Rock ihrer Mutter. Weil sie ein Handy organisieren konnten, gelang die Flucht und 2016 kam Jihan mit Mutter und Geschwistern sowie 1.100 anderen Frauen und Kindern als Kontingentflüchtling nach Baden-Württemberg.

Bei den Jesiden handelt es sich um eine Religionsgemeinschaft, die älter als das Christentum ist und seit jeher verfolgt wird. Der IS wollte den jesidischen Glauben auslöschen, die Angehörigen zwangsislamisieren. Jihan Alomar befindet sich in Sicherheit, doch von 31 Familienmitgliedern fehlt bis heute jede Spur – darunter von ihrem Vater und einem Bruder, der damals zwölf Jahre alt war. Eine Schwester wurde im September 2023 nach acht Jahren Gefangenschaft entlassen, die 26-Jährige lebt inzwischen schwer traumatisiert bei der Familie in Tübingen – über ihre Gefangenschaft redet sie nicht. »Sie hat furchtbare Dinge erlebt. Man muss sehr sensibel damit umgehen«, weiß Zine Balletshofer, die einst als Tanztherapeutin Jihan Amoral betreut hat - eine Freundschaft ist daraus entstanden. Mit ihrem Sohn Marvin Jiyan Balletshofer hat Jihan Amoral dann begonnen, ihre Geschichte in Buchform aufzuarbeiten, 2019 reisten sie gemeinsam in den Irak. Doch Marvin starb vor Abschluss des Projekts an einem Verkehrsunfall, die beiden Frauen beendeten es. Denn, so Zine Balletshofer: »Es ist wichtig, dass die Geschichte weitergetragen wird. «

Das ist auch die Motivation von Jihan Alomar: »Was mir Angst macht ist, dass man das alles vergisst«, erklärt sie. »Dabei ist das immer noch nicht vorbei«. Deshalb habe sie mit 17 Jahren entschieden, die Öffentlichkeit zu suchen. Eine der ersten Lesungen ihres 2020 erschienenen Buchs »Dankbarkeit – Eine der schlimmsten Zeit meines Lebens« hatte eben am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium stattgefunden, inzwischen ist Jihan Alomar bundesweit unterwegs, um über ihr Leben zu erzählen: »Ich kann weitermachen, weil ich eine Stimme für mein Volk bin.« Sie sei so dankbar, dass sie in Deutschland ein weitgehend sicheres Leben führen könne, auch wenn sie trotzdem nie alleine unterwegs sei. Zurück wolle sie nicht, gibt die 20-Jährige zu. Tausende Familien leben nach wie vor in Camps: »Sie sind Flüchtlinge im eigenen Land.«

Jihan Alomar erzählt ihre Geschichte wo immer sie kann, ist auch in der Menschenrechtsorganisation Háwar.Help aktiv. Am Dienstag, 28. Januar ist um 20.20 Uhr im Tübinger Kino Blaue Brücke die Premiere eines Dokumentarfilms, in dem unter anderem ihr Werdegang und der ihrer Schwester thematisiert wird - Interessierte sind eingeladen. (GEA)