TÜBINGEN. Der Reiz liegt im Vergleich. Immer zwei Tastenkünstler treffen beim Internationalen Pianistenfestival in Tübingen an einem Abend aufeinander. Wird man Unterschiede im Zugriff auf den Bechsteinflügel ausmachen können? Entfalten sich ähnliche oder ganz gegensätzliche Temperamente?
Zum Auftakt der 21. Ausgabe erlebte man am Dienstagabend im Festsaal der Neuen Aula zwei Musiker die äußerlich ganz ähnlich auftraten: freundlich, reserviert, kontrolliert. Ein Zug des Beherrschten, den Raffaele D'Angelo wie Nicolas Bourdoncle auch an den Tasten nie ganz ablegten. Und doch eröffnen sich zwei unterschiedliche Ansätze.
Von Bach zu Chopin
Sinnig ist dabei der von den Werken geschlagene Bogen. Von Bach (in der Bearbeitung Busonis) geht es über Beethoven und Schubert im ersten Teil zu Chopin im zweiten Teil. Wobei vor allem Bach und Schubert wie eine Hinführung zu Chopin wirken.
Der Italiener Raffaele D'Angelo, in Pozenza und Rom ausgebildet, gliedert achtsam das von Busoni bearbeitete Choralvorspiel Bachs zu »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ«. Bringt die Choralmelodie zum Klingen, das gedämpfte Harmoniespiel der kontrapunktisch verwobenen Stimmen zum Leuchten. Hier wie in allen Stücken bleibt sein Oberkörper fast unbewegt.
Von Beethoven zu Schubert
In Beethovens Sonate Nr. 30 E-Dur op. 109 wie danach in drei späten Klavierstücken Schuberts D946 wirkt er wie ein Regisseur, der mit überlegtem Blick die Dinge regelt. Durchaus öffnet er Fenster des Emotionalen, des Zarten, Poetischen, auch rauschenden Tastendonner. Aber immer in einem Rahmen des Durchdachten. Wunderbar klar ausgebreitete Arpeggien und eine prägnante Bassarbeit kennzeichnet den ersten Beethovensatz. Stürmische Aufgewühltheit und donnernde Energie-Entladungen den zweiten. Auch hier die kraftvollen Bässe. Das Thema des finalen Variationssatzes ist mit Ruhe ausgesungen.
Aufgewühlt geht es mit Schubert weiter. Effektvoll stellt d'Angelo der nervösen Erregung die friedvolle Ruhe des Mittelteils gegenüber. Auch im Es-Dur-Stück diese Kontraste: Der fast frohgemut singende Beginn kippt in einen tremolierenden Hexentanz. Leichtfüßig-verspielt das dritte Stück mit seinen kecken Synkopen. Als Zugabe gibt's ein »Moment musical« von Schubert. Insgesamt zeigt sich da einer, der furios die Kontraste inszeniert, dabei aber immer den Überblick behält. So als würde er die entfachten Emotionen gleichzeitig von außen betrachten wie ein Kunstwerk.
Hexentänze mit Chopin
Dieses Gefühl der überlegenen Souveränität durchweht auch das Spiel von Nicolas Bourdoncle nach der Pause. Und doch lässt sich der Franzose ein Stück weiter ins Ekstatische ziehen. Das Nocturne Nr. 2 in E-Dur fließt bei ihm voller Natürlichkeit dahin. Das Scherzo Nr. 3 in cis-Moll jedoch öffnet die Türen zum Dämonischen und zu schwindelerregender Tastenhexerei. Rasende Oktavgewitter entfalten sich; feenhafte Diskantwolken schimmern über emphatisch angeschlagenen Basstönen. Ein Stück weit zumindest gibt Bourdoncle den Posten des kühlen Beobachters auf und wirft sich mitten ins Getümmel, auch körperlich.
Eine Welt für sich sind die berühmten 24 Préludes von Chopins. Mal kurze, mal etwas längere Skizzen, die in poetischer Verdichtung immer neue Stimmungen aufziehen. Schwirrende Erregung und lastende Trauer. Schäumendes Prickeln und selige Andacht. Hymnisches Pathos und grollender Zorn. Und natürlich das berühmte »Regentropfen-Prélude« mit seiner zarten Verträumtheit.
Reigen poetischer Skizzen
Wie sein Vorgänger D'Angelo vermeidet auch Bourdoncle allzu üppiges Ausbaden, setzt Rubato sparsam ein. Umso extremer inszeniert er die Kontraste zwischen den Einzelsätzen. Nach ruhigen Stücken lässt er die Energie regelrecht explodieren. Geht ins Exzessive, treibt chromatische Terzgewitter in rasenden Übermut. Sodass es umso stärker wirkt, wenn ein anderer Satz ins immer Leisere und Ätherischere verweht.
Am Ende waren beide Ansätze gar nicht so weit voneinander entfernt. Auch insofern bildete der Abend einen schlüssigen Bogen. In zwei Zugaben, unangesagt, aber sicher ebenfalls Chopin, zeigte Bourdoncle noch einmal jene in vollendete Form gepackte Poesie, die wie ein Motto über dem Konzert stand. An diesem Donnerstag, 8. Mai, folgt der zweite Teil des Festivals mit Sofia Vasheruk und Lambis Vassiliadis. (GEA)