REUTLINGEN. Da hat Reutlingen einen Künstler von nationalem, ja internationalem Rang – und ignoriert ihn. Eine Ausstellung 1992 im Spendhaus, das war’s. Seither ist Wolfgang Nieblich, berühmt vor allem für hintersinnige Buchobjekte, nicht mehr mit Kunst in seiner Heimatstadt aufgeschlagen. Was daran liegen mag, dass Nieblich nicht lange hier lebte.
1948 in Reutlingen geboren, zieht die Familie bereits zwei Jahre später nach Stuttgart. Weitere vier Jahre später trennen sich die Eltern, der sechsjährige Wolfgang zieht mit der Mutter zu deren Eltern nach Kahla in Thüringen. Im nahen Jena studiert er zu DDR-Zeiten Mathematik, fliegt nach vier Semestern wegen »politischer Unzuverlässigkeit« von der Uni.
Kleinkrieg mit der Stasi
Später studiert er an der Kunsthochschule Weißensee in Ostberlin. Bekommt, Stichwort »politische Unzuverlässigkeit«, keine Mitgliedschaft im Kunstverband. 1975 wird seinem Ausreiseantrag stattgegeben. Aus dem Ostberliner wird ein Westberliner Künstler. Der anfangs mit surrealistischen Bildern in der Tradition Salvador Dalís und Max Ernsts aufhorchen lässt. Um Ende der 70er in Buchobjekten sein Lebensthema zu finden. Aus Hunderten Bänden lässt er Getreidehalme sprießen, nennt das »Buchweizen«, was Widerhall bis Frankreich findet.
Nun legt Nieblich unter dem Titel »Mauersplitter« eine »deutsch-deutsche Künstlerbiografie« vor, so der Untertitel. Auch da bricht er Erwartungen. Über Kindheit und Jugend wird noch halbwegs herkömmlich berichtet, mit knappen Texten von Michael Fischer.
Auch Nieblichs Dauerkleinkrieg mit der Staatsmacht der DDR ist so dokumentiert. Die Stasi überwacht ihn, holt ihn regelmäßig zu Verhören ab, lässt ihn durch Freunde bespitzeln. Verpasst ihm Aufenthaltsverbote in Ost-Berlin, die er durch »Vitamin B« abbiegen kann: Sein Schwiegervater ist Leiter des DDR-Büros für den Berliner Profifußball; ein Bekannter des Schwiergervaters ist deshalb Staatssicherheitsminister Mielke, gleichzeitig Präsident von Dynamo Berlin.
Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem aufsässigen Kunststudenten und dem Staatsapparat ist mit allerhand Formularen bis hin zum Ausreisebescheid dokumentiert. Staatliches Handeln als absurdes Drama im Stile Kafkas. Kein Zufall, dass die ersten Bühnenbilder, die Nieblich für renommierte Bühnen in Westberlin schafft, Kafkas Romanen »Der Prozess« und »Das Schloss« gelten. Seine Entwürfe sind begehrt an den Theatern.
Der weitaus größte Teil des Buchs ist jedoch völlig anders. Diese über 300 Seiten bestreitet das Buch fast komplett mit Ausschnitten aus Rezensionen, Katalogtexten und Einführungsreden zu den über 400 Ausstellungen, die Nieblich seither im In- und Ausland gezeigt hat.
Bücher als Kultobjekt und Ware
So taucht man ein in einen Strom von Interpretationen des Nieblich’schen Schaffens. Anfangs gehen die Meinungen auseinander. Manch Bücherfreund fühlt sich provoziert, weil Nieblich die Ausstellungsbesucher zwingt, über »Bücherteppiche« zu trampeln. Mancher empört sich, weil Nieblich Bücher mit Wiegemessern traktiert. Der Künstler enthält sich jeden Kommentars. Nur als Einzelne seine Installationen in die Nähe der Bücherverbrennung der Nazis rücken, wird er ungehalten. Geht es ihm doch um den Zwiespalt, dass Bücher sowohl Kultursymbol wie kommerzielle Ware sind.
So erlebt man Kunst in Nieblichs »Biografie« als Strom mäandernder Deutungen. Gleichzeitig behauptet dieses Prinzip die Einheit von Künstler und Werk. Das Leben des Künstlers wird als identisch mit seinem Schaffen unterstellt, seinen Ausstellungen, den Reaktionen darauf. Was eine Überspitzung ist. Und Konzepte der 1970er spüren lässt, als ein Joseph Beuys auf seine Weise die Einheit von Person und Werk behauptete.
Davon unabhängig ist Nieblich, inzwischen 76, eine interessante Type. Sein Werk ist bei aller wortspielerischer Ironie auch ein Trauergesang auf eine Zeit, als Kultur noch haptisch greifbar war. Was in einer Zeit, da sie vollends ins Digitale entfleucht, aktueller denn je ist. Wird Zeit, dass man sich ihm auch in seiner Geburtsstadt mal wieder widmet. (GEA)
Wolfgang Nieblich: Mauersplitter. Eine deutsch-deutsche Künstlerbiografie, 421 Seiten, gebunden, 44 Euro, Verlag PalmArtPress, Berlin.