REUTLINGEN. Wie berichtet wird es die Christuskirche als Konzertkirche in der bisherigen Form ab Februar nicht mehr geben; dann wird sie zum Diakonischen Zentrum umgebaut. Für die Reutlinger Chorszene entfällt damit eine wichtige, akustisch und vom Rahmen her passende Konzertstätte, gerade für Martin Künstner und seinen Philharmonia Chor und seinen Konzertchor Reutlingen.
Sie verabschiedeten sich nun von der Christuskirche mit der Aufführung des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach, und zwar in voller Länge und großer Besetzung. Auch das Publikum strömte in Scharen, zusätzliche Stühle waren vonnöten. Eine Ansprache wurde nicht gehalten.
Wohldosierter Paukenton
Das berühmte »Jauchzet, frohlocket« weckte mit wohldosiertem Paukenton die Weihnachtsfreude. Um die 120 Sängerinnen und Sänger füllten den Chorraum, ergänzt durch den Kinderchor der Wilhelm-Hauff-Realschule Pfullingen und ein Instrumentalensemble aus bewährten Profis. Martin Künstner dirigierte mit großer, inspirierender Gestik.
Hinzu traten dieselben Solisten wie im Vorjahr, als die Kantaten 1, 3 und 6 aufgeführt wurden: Johanna Kapelari (Sopran), Mirjam Kapelari (Alt), Marcus Elsässer (Tenor) und Matthias Bein (Bass). Zwar vom Timbre her etwas ungleich, erwiesen sie sich doch als vorzügliches Quartett, allen voran Marcus Elsässer als mustergültiger Evangelist, der auswendig und überzeugend die Handlung trug.
Chorgesang mit Hingabe
Der große Chor widmete sich seiner Aufgabe mit Hingabe, in den komplizierten Chorsätzen genauso konzentriert und ausgewogen wie in den schlichten Chorälen, mal schwungvoll belebt, mal in ruhiger Andacht. Dass das Zusammenspiel der schweren vokalen Klangmasse mit dem kammermusikalisch besetzten Instrumentalensemble relativ sicher gelang, wurde bewundernd anerkannt.
Künstner hat den Gesamtumfang unauffällig gekürzt, trotzdem wurde die vorgesehene Dauer deutlich überschritten. Doch es war erfreulich, einmal die seltener aufgeführten Kantaten Nr. 4 und 5 zu hören: Für die vierte werden zusätzlich zwei Hörner benötigt und eigene Solostimmen für die Arie »Flößt mein Heiland«, die der zweifelnden Solo-Seele im Echo das Hiersein Christi bestätigen. Der helle Hörnerklang ergänzte das Klangbild aufs Schönste, die Echo-Arie hingegen musste kleine Einbußen verkraften.
Stehvermögen abverlangt
In der 5. Kantate spürt man, dass über zwei Stunden wunderbarer Musik an die Substanz gehen können. Den Chören wird neben Stehvermögen weiterhin höchste Konzentration abverlangt, etwa in »Ehre sei dir Gott gesungen«. Neue Hoffnung und Stimmglanz bringt das Solisten-Terzett »Ach, wann wird die Zeit erscheinen« ins Spiel – textlich anfechtbar, doch hier sensibel und ausdrucksvoll interpretiert.
Die 6. Kantate beschließt das Ganze mit freudigem Siegesjubel, zu dem der Dirigent seine Chorsänger nochmals mobilisiert, und dem stehende Ovationen des Publikums für die gelungene Aufführung folgen. Danach heißt es Abschied nehmen – für kurze Zeit voneinander, für immer von der vertrauten Konzertstätte. (GEA)