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Aktuell Literatursommer

Tauchfahrt in die literarische Moderne: Erinnerung an Rainer Maria Gerhardt

Rainer Maria Gerhardt wollte vor 70 Jahren die deutsche Literatur modern machen. Franz Josef Knape und Morris Weckherlin erinnerten in Tübingen an ihn.

Franz Josef Knape (vorn) und Morris Weckherlin auf den Spuren von Rainer Maria Gerhardt.
Franz Josef Knape (vorn) und Morris Weckherlin auf den Spuren von Rainer Maria Gerhardt. Foto: Thomas Morawitzky
Franz Josef Knape (vorn) und Morris Weckherlin auf den Spuren von Rainer Maria Gerhardt.
Foto: Thomas Morawitzky

TÜBINGEN. Hätte Franz Josef Knape nicht vor langer Zeit schon, 1966, ein Gedicht von Rainer Maria Gerhardt (1927-1954) in einer Anthologie gelesen, wäre Gerhardt heute vielleicht vergessen – oder erinnert allein anhand eines Textes in einer anderen Anthologie, nicht von ihm: »The Death of Europe« (»Der Tod Europas«), ein Gedicht des Amerikaners Charles Olson, eröffnete 1960 den Band »Junge amerikanische Lyrik«, herausgegeben und übersetzt von Walter Höllerer, später wiederveröffentlicht als »Lyrik der Beat Generation«. Der Anlass für das Gedicht war Rainer Maria Gerhardts Beerdigung – für Olson war er »der erste von Europa / mit dem ich sprechen konnte«.

Rainer Maria Gerhardt, geboren 1927 in Karlsruhe, war natürlich ebenso wenig ein Beatnik wie Charles Olson. Gerhardt gehörte der Hitler-Jugend an, begann eine Ausbildung bei einer Versicherung, wurde eingezogen, desertierte, schloss sich Titos Truppen an. Nach Kriegsende zog er vorübergehend nach Wien, lernte dort die moderne Literatur kennen, setzte sich fortan sehr entschieden für sie ein, wurde als Übersetzer und Verleger tätig, verschuldete sich, beging mit 28 Jahren Selbstmord, ließ eine Frau und zwei Kinder zurück.

Gerhardt-Gesamtwerk erschien 2007

Franz Josef Knape beschäftigt sich seit seiner ersten Begegnung mit einem Gedicht Gerhardts intensiv mit dem Werk des Autors, war beteiligt an der Herausgabe des Gesamtwerks von Gerhardt, das 2007 im Verlag Wallstein erschien, seinerzeit auch in der Lyriknacht der Stadtbibliothek Stuttgart präsentiert wurde. Damals las Hanns Zischler Gerhardts Texte; in dieser Woche, im Uhlandsaal des Tübinger Museums, ist es Morris Weckherlin, Schauspieler am Zimmertheater, der sie vorträgt. Und Franz Josef Knape spricht lange, kenntnisreich und engagiert über den Dichter, Übersetzer, Verleger.

Die Lesung findet statt im Rahmen des Literatursommers Baden-Württemberg – er steht unter dem Motto »Der Freiheit eine Gasse«, und Gerhardt fügt sich hier gut ein. »Ich glaube, dass es in Deutschland keine lebendig wirksame literarische Tradition gibt«, sagt Rainer Maria Gerhardt in der Aufzeichnung einer Radiosendung, die Franz Josef Knape zu Beginn des Abends abspielt. »Aber es gibt eine Tradition des Konformismus.«

Internationaler Literaturvermittler

Gegen diese Tradition rannte er an. Rainer Maria Gerhardt baute internationale Kontakte auf, korrespondierte mit amerikanischen Dichtern, übersetzte ihre Texte, veröffentlichte sie in seiner Zeitschrift »Fragmente«, von der lediglich sechs Ausgaben erschienen. Bei ihnen handelte es sich um schmale Hefte, eigentlich Broschüren – Franz Josef Knape präsentiert einige Beispiele –, die auftraten als eine »Internationale Revue für moderne Dichtung«. Darin Texte von Antonin Artaud, Henri Michaux, William Carlos Williams, Charles Olson, Robert Creeley, Ezra Pound, aber auch Henry Miller, den Gerhardt für den deutschen Markt entdeckte.

Rainer Maria Gerhardt war vor 70 Jahren für kurze Zeit eine wichtige Stimme der deutschen Literatur. Gottfried Benn förderte ihn zuerst, wandte sich dann von ihm ab, Alfred Andersch und Hans Magnus Enzensberger unterstützten ihn. Gerhardts eigene Dichtung blieb fast hermetisch. Charles Olson schlug einen anderen Weg ein, wie im Briefwechsel beider Autoren klar wird, aus dem Franz Josef Knape lange vorträgt. Morris Weckherlin indes liest die Verse des fast Vergessenen klar und eindringlich, lässt Gebilde aus rätselhaft dicht gesetzten Bildern lebendig werden. (GEA)