KIRCHHEIM/TECK. Alles fing an mit einem handgeschriebenen Stimmbuch. Susanne Eckstein entdeckte es auf dem Dachboden ihrer Großeltern in Bissingen unter Teck. Ein Fabrikarbeiter namens Wilhelm Stiefelmaier hatte aus diesen Noten das zweite Flügelhorn gespielt. Vermerkt war das Jahr 1895. Die Reutlinger Musikexpertin schaute die Blätter durch und stutzte: »Das entsprach überhaupt nicht dem, was ich als Repertoire einer dörflichen Blaskapelle erwartet hatte.« Kaum Walzer, Märsche, Polkas, kein »Böhmisch-Mährisch« – stattdessen vorne im Buch: Kirchenlieder. Und wenn man das Buch umdrehte und von hinten las: Patriotisches zu Königs Geburtstag. Im mittleren Teil, sozusagen für »diverse Gelegenheiten«: Operette, leichte Klassik, Volkslieder. Die böhmisch-mährische Volksmusik, erklärt Eckstein, kam erst mit den Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg.
Ecksteins Interesse war geweckt. Was für Musik hatten die Leute tatsächlich gemacht? Sie tauchte in Archive ab, durchforstete Zeitungen von damals. Am Ende wurde eine Dissertation über das Musikleben in und um Kirchheim/Teck daraus. Sie deckt die Jahre von 1800 bis 1906 ab, dem Jahr des letzten Stimmbuch-Eintrags und ist samt den digitalisierten Quellen online verfügbar.
Teckbote als Quelle
Doch das Musikleben unter der Teck ließ Eckstein nicht los. Was, fragte sie sich, war eigentlich im Nationalsozialismus? Schnell wurde klar: Bevor sie das klären konnte, musste sie sich den 1920ern widmen. Ließen sich hier bereits Vorboten der braunen Herrschaft erkennen?
Diesmal konzentrierte sie sich auf den »Teckboten« als Quelle. Digitalisiert war auch davon noch nichts. Weshalb sie begann, alle Einträge mit Bezug zu Musik und Kultur von Hand in den Computer zu tippen: Ankündigungen von Konzerten, Faschingsbällen, Weihnachtsfeiern. Konzertberichte, Werbung für Instrumente oder auch Halstabletten. Eine mühsame, zeitraubende Arbeit. Doch so nahm nach und nach ein weiterer digitaler Quellenkorpus Gestalt an, in dem man frei mit Volltextsuche recherchieren kann. Er ist nun ebenfalls Teil des Online-Angebots der Universitäts-Bibliothek Tübingen und auf deren Internetseite abrufbar.
Internet-Hinweis
Die von Susanne Eckstein digitalisierten Inhalte der Teckbote-Ausgaben von 1920 bis 1929 sind online abrufbar unter http://hdl.handle.net/10900/159184. Zugang zu Ecksteins Vorgängerprojekt »Musikleben im Oberamt Kirchheim/Teck 1800–1906« bietet die Homepage der Universitätsbibliothek Tübingen. Man findet das Publikationssystem im Internet unter https://tobias-lib.uni-tuebingen.de. Den Menüpunkt »Autoren« wählen und im Suchfeld »Eckstein« eingeben. Dort findet man die Arbeit als PDF zum Herunterladen. (GEA)
Was sagen nun all diese Rezensionen, Ankündigungen, Reklamegrafiken? Mitunter Kurioses, Interessantes, Schräges. Die Zeitung meldet, dass sich die Zugtiere eines allzulang zechenden Bauern selbsttätig auf den Heimweg machten. Eine Firma wirbt für Tabletten, die Sängern die Kehle reinigen sollen. Ein »Oberwiderwärtiger« lädt andere »Widerwärtige« zur Gründung eines Vereins ein.
Schwierige Zeiten
»Die 1920er-Jahre waren nicht golden«, stellt Eckstein klar. Zu Beginn liegt die Wirtschaft durch den verlorenen Krieg am Boden, später kommt die Hyperinflation. »Die Not war groß«, stellt Eckstein fest, »aber die Leute haben selbst etwas auf die Beine gestellt.« Blaskapellen und Theatergruppen entstehen, das Kino wird mit Historienfilmen zum Bildungsträger. Stärker noch als vor dem Krieg übernehmen Apparate die Verbreitung von Musik: Grammophone und sogenannte »Sprechapparate« mit Schallplatten werden Allgemeingut. Das Radio ebenfalls. Radio-Übertragungen auf dem Dorfplatz vom Lkw herunter werden zum »Konzertereignis«.
Natürlich wird auch live Musik gemacht. Neben Gesangvereinen und Blaskapellen erleben Zupfinstrumente einen Boom: Zither-Vereine und Mandolinen-Orchester kommen auf. Das Repertoire reicht von Volksliedern bis zu Klassik-Bearbeitungen.
Auflösung der Militärkapellen
In der Blasmusik hatten Eckstein zufolge bis vor dem 1. Weltkrieg Militärkapellen großen Einfluss. Über sie lief oft auch die Ausbildung von Blasmusikern. Aufgrund der Demilitarisierung nach dem verlorenen 1. Weltkrieg wurden sie aufgelöst. Stattdessen hätten sich die Dorfkapellen nun quasimilitärische Uniformen angeschafft, erklärt Eckstein. »Die Marschmusik kam aber erst unter den Nazis so richtig auf.« In den 1920ern geht es bei Konzerten eher um Ouvertüren und Potpourris, gelegentlich sogar um Beethoven. Oft sind auch Streicher dabei.
Jazz und braune Vorboten
Zudem dringt der Jazz bis auf die Dörfer vor. Wer genau diese Musiker waren, die zum Tanz Swingrhythmen anschlugen, ist unklar. Waren es Musiker der örtlichen Blaskapellen, die sich zu Bands zusammenfanden?
Das Einsickern des Nationalsozialismus bleibt auch unter der Teck nicht aus. Zu Beginn gibt es Vorbehalte gegen die Rechtsnationalen. Der Ruf von Krawallbrüdern eilt ihnen voraus. Ein 1923 mit großem Pomp inszenierter Fackelumzug zur Sonnwende ändert die Stimmung. Presseberichterstatter heben die perfekte Organisation und das mustergültige Betragen der Teilnehmer hervor. Ende des Jahrzehnts werden die nationalistischen Töne lauter. Beim großen Sängerfest zum 100. Todestag von Franz Schubert in Wien seien Forderungen nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich und »Heil«-Rufe zu hören gewesen, sagt Eckstein.
1930er-Jahre im Blick
Nun, da der Quellenkorpus zu den 1920er-Jahren steht, will Eckstein sich die 1930er-Jahre vorknöpfen. Will klären, wie die Herrschaft der Nationalsozialisten sich auf das Musikleben an der Basis ausgewirkt hat. Zumal da über weite Strecken ein schwarzes Loch klafft, sind doch die Unterlagen vieler Vereine aus dieser Zeit verloren. Die Auswertung des Teckboten könnte ein Bild vermitteln, wie die »musikalische Normalität« unter den Nazis ausgesehen hat. Bis dazu ebenfalls ein Quellenkorpus erstellt ist, wird es aber dauern. Die Arbeit ist mühsam. (GEA)