REUTLINGEN. Spätestens beim dritten Mal muss das Publikum schmunzeln, als sich immer dasselbe Ritual vollzieht am Mittwochabend im Kunstmuseum Reutlingen/konkret in den Wandel-Hallen: Vor jedem Stück tritt einer der Akteure nach vorn und verkündet, zur jeweiligen Komposition habe ihn inspiriert, dass ein befreundeter Musiker verstorben sei. »He passed away«, zu deutsch, »er verschied« – diese Formel fällt oft an diesem Abend. Gelegentlich abgewandelt zu »He passed on« – er ging weiter, also in ein anderes Dasein.
Das Sirius Quartet aus New York ist zu Gast bei der städtischen Reutlinger Reihe Musica Nova, und das mit den vielen Hinweisen auf Menschen, die »passed away« oder »passed on« sind, ist kein Zufall. Die vier Streicher haben ihre neue Platte »Incantations« der Erinnerung an Freunde gewidmet, die physisch nicht mehr greifbar sind. Deren Gegenwart man jedoch in der Musik beschwören will. Deshalb der Titel: »Incantations«, also »Beschwörungen« oder »Zauberformeln«.
Alles Eigenkompositionen
Es sind ausschließlich Kompositionen der vier Musiker, die erklingen: Fung Chern Hwei an der ersten Violine, Gregor Hübner an der zweiten Violine, Sunjay Jayaram an der Viola, Jeremy Harman am Cello. Hübner ist eher Teilzeit-New-Yorker, ansonsten viel im Stuttgarter Raum unterwegs, mit Jazzformationen oder dem Musik-Comedy-Projekt Berta Epple. Das Quartett war vor 14 Jahren schon einmal da, damals in der von Tobias Festl und Reinhold Maas betriebenen Art Gallery in der Leonhardstraße. Wo Harman dank Festl, der in der Etage drüber einen Kontrabasshandel betrieb, in den Genuss kam, ein wertvolles historisches Cello zu spielen. Weshalb Reutlingen für immer in seinem Gedächtnis verankert ist.
Das Konzert der vier in den Wandel-Hallen wird umgekehrt im Gedächtnis der rund 80 Besucher bleiben. Ein Auftritt eines Streicher-Vierers inmitten einer Schau voller Vierecke – nämlich in der Ausstellung »Das Quadrat muss den Raum beherrschen« mit Werken von Aurélie Nemours und Zeitgenossen. »Ein Quartett im Quadrat – wo hat's sowas schon mal gegeben?«, ruft Michael Hagemann als Leiter der Reihe in seiner Einleitung aus.
Vor allem aber ignoriert das Ensemble mit charmanter Konsequenz jede Art von Eingrenzung dessen, was Neue Musik ist. Fröhlich greift man auf die rotierenden Motivzellen der Minimal Music zurück. Zieht auch mal dem Metal entlehnte Riffs heran, die mit stoischer Intensität in den Raum getackert werden. Vibrierende Rhythmusfelder entstehen so, mal leise pulsierend, mal vehement nach vorn bretternd. Rhythmusfelder, über die sich immer neue Soli hinwegschwingen, von den Geigern, vom Cellisten, vom Bratscher. Soli, die sich immer wieder zu leidenschaftlich aufwirbelnden Improvisationen verdichten.
Verdichtete Emotionen
Anders als manch spröde und verkopfte Avantgarde-Musik zielt das alles direkt aufs Gefühl. Samtweiche Trauerakkorde umfangen den Hörer wie eine wärmende Decke. Flackernde Rhythmusflächen reißen ihn innerlich aufs Tanzparkett. Rockige und jazzrockige Passagen öffnen Ventile für Wut und Aggression. In ekstatischen Improvisationen verdichtet sich Emotion schlechthin, wird hinausgeschleudert als Angst, Liebe, Hingabe, Verzweiflung. Zwischendurch sinkt auch mal alles zurück. In ein hauchfeines Cello-Zupfen, eine einsame Klage der Bratsche, ein schlichtes Liedmotiv, zart und berührend. Ehe es in den nächsten Ritt geht.
So mitreißend und voll atemloser Vehemenz kann Gegenwartsmusik sein. Sie kann zudem ausgreifen in immer neue Kulturräume. Kann Sufi-Tänze beschwören, die Besucher mit Fata-Morgana-artigem Halbtonflimmern auf die afrikanische Insel Gorée entführen, von der früher Sklaven nach Amerika verschifft wurden. Sie kann zornig den Krieg anklagen und in einem ukrainischen Volkslied Trost und Hoffnung suchen. Diese »Incantations« zaubern nicht nur die Gegenwart Verstorbener zurück, sondern sie zaubern auch eine unwiderstehliche Magie in die Musikwelt. (GEA)