Logo
Aktuell Musik

Reutlinger Christuskirche: Letztes Mal Weihnachtsoratorium vor dem Umbau

Die Zeit der Reutlinger Christuskirche als Ort großer Oratorienaufführungen endet. So mancher bedauert das. Auch, weil Alternativen in der Stadt fehlen.

Rüdiger Müller-Nübling (links), Irene Kellner-Langanky und Martin Künstner vor der Reutlinger Christuskirche.
Rüdiger Müller-Nübling (links), Irene Kellner-Langanky und Martin Künstner vor der Reutlinger Christuskirche. Foto: Christoph B. Ströhle
Rüdiger Müller-Nübling (links), Irene Kellner-Langanky und Martin Künstner vor der Reutlinger Christuskirche.
Foto: Christoph B. Ströhle

REUTLINGEN. Ein letztes Mal ein großes Werk: Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium in allen sechs Teilen bringen der Philharmonia Chor Reutlingen, der Konzertchor Reutlingen, der Chor der Wilhelm-Hauff-Realschule Pfullingen, Mitglieder der Württembergischen Philharmonie Reutlingen und Solisten am vierten Advent zur Aufführung. Ganz bewusst in der Christuskirche, die, so Chorleiter Martin Künstner, der bis vor einigen Jahren Oboist der Württembergischen Philharmonie war, »die beste Akustik in Reutlingen hat«.

Es wird zugleich ein Abschied sein von der Kirche als Ort großer Oratorienaufführungen. Denn das denkmalgeschützte Gebäude steht vor der Umwandlung in ein Diakonisches Zentrum. Vor dem geplanten Spatenstich des auch mit Neubauten begleiteten Projekts am 26. März 2025 wird im Februar die Orgel demontiert. Sie ist verkauft, geht nach Italien, in eine katholische Diözese. Ebenfalls im Februar sollen die Kirchenbänke ausgebaut werden, deren Bestimmungsort Polen ist. »Die Kirche bleibt Kirche«, sagt Projektleiter Frank Ziegler. Allerdings werde der Innenraum kleiner. An die Stelle der Chorempore treten Beratungsräume und ein Besprechungsraum. Die viel gelobte Akustik wird sich auch dadurch verändern, dass die Seitenschiffe durch Glaswände abgetrennt werden. Ziegler geht davon aus, dass aufgrund der Brandschutzbestimmungen im Hauptraum künftig bei Veranstaltungen nur noch für 200 bis 300 Besucherinnen und Besucher bestuhlt werden kann.

Alternativen fehlen

Martin Künstner und der Philharmonia Chor Reutlingen bedauern das. »Wir sind traurig und ratlos«, sagt Künstner. Die Chorvorsitzende Irene Kellner-Langanky nennt als einen der Gründe, dass Alternativen in der Stadt fehlen. Der Chor sei auf der Suche nach einem Ort für große Konzerte. »Für kleine haben wir genügend Möglichkeiten, nicht aber für Aufführungen beispielsweise des Weihnachtsoratoriums oder von Beethovens 9. Sinfonie.« Letztere führt der Philharmonia Chor am 1. Januar in der Tübinger Stiftskirche auf. Projekte wie diese seien in einem Raum, der 200 bis 300 Menschen fasst, nicht finanzierbar. »Da wünschen wir uns schon auch ein bisschen Unterstützung vonseiten der Stadt«, so Kellner-Langanky.

Künstner und Co. hätten es gerne gesehen - und schlugen das vor ein paar Jahren auch so vor -, dass die Stadt die Christuskirche als Konzertforum übernimmt. Fehle in Reutlingen doch ein Raum in der Größe zwischen dem großen und dem kleinen Saal der Stadthalle, den Vereine für Aufführungen nutzen können. Künstner spricht von einer Größenordnung von 400 bis 800 Sitzplätzen. Nun ist man traurig, die Christuskirche, zumal mit ihrer hervorragenden Akustik, zu verlieren.

Unterschriften gesammelt

Rüdiger Müller-Nübling, vormals als Bratscher der Württembergischen Philharmonie und mittlerweile als Sänger im Reutlinger Kammerchor an Aufführungen in der Christuskirche beteiligt, sammelte im Jahr 2021 um die 200 Unterschriften, um eine bauliche Umgestaltung der Kirche zu verhindern. Ohne Ergebnis. Das Diakonische Zentrum hätte man seiner Ansicht nach auch in der Jubilatekirche in Orschel-Hagen ansiedeln können. Diese stehe ebenfalls unter Denkmalschutz, sei aber wenig ansehnlich und als Konzertkirche nicht so bedeutend.

Die am 1. Advent 1936 eingeweihte Christuskirche war von vornherein auch als Konzertkirche geplant worden. Der Schwäbische Singkreis unter Kirchenmusikdirektor Hans Grischkat hatte dort seine Heimat. Eckhard und Renate Weyand standen mit dem Kantatenchor der Christuskirche in dieser Tradition. Ein Blick in die Archive zeigt, dass 1976, als die Christuskirche ins »Schwabenalter« kam, die Jubiläumsveranstaltungen die Aufführung einer Adventskantate und einer Motette sowie von Bachs h-Moll-Messe durch den Grischkat-Singkreis und von Händels »Messias« durch den Kantatenchor und das Bach-Ensemble unter Weyands Leitung umfassten. Außerdem trat die Gemeindejugend mit der Good-News-Band auf.

Aufführungsinfo

Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium erklingt in der Reutlinger Christuskirche am Sonntag, 22. Dezember, um 17 Uhr. Die Kantorei der Mauritiuskirche gestaltet ebenfalls dort am 26. Dezember um 10 Uhr den Weihnachtsgottesdienst unter dem Motto »Jauchzet, frohlocket!« mit. (GEA)

Der Knabenchor Capella Vocalis unter Christian Bonaths Leitung nutzte die Christuskirche beispielsweise im Jahr 2015 für die Uraufführung von Jürgen Blumes Gryphius-Kantate und sang 2019 dort Kantaten von Christoph Graupner für Radio und CD ein.

Auch Kantorin Michaela Frind sagt, dass sie der besonderen Akustik der Christuskirche nachtrauern werde, doch hat sie Verständnis dafür, dass beispielsweise die diese mit prägenden Kirchenbänke entfernt werden müssen, um die Kirche für neue Zwecke zu nutzen. Positiv sieht sie, dass das Gebäude seinen »Kirchencharakter behalten wird«. Gerne erinnert sie sich etwa an Gerhard Kaufmanns Bonhoeffer-Oratorium zurück, das sie aus Anlass von 70 Jahren Kriegsende 2015 in der Christuskirche dirigierte. (GEA)