REUTLINGEN. Es waren nicht die günstigsten Voraussetzungen, mit denen der Knabenchor Capella Vocalis am zweiten Weihnachtsfeiertag in seine alljährliche Aufführung von Bachs Weihnachtsoratorium ging. Die Corona-Pandemie hatte dem Chor zwei Jahre ohne richtige Probenmöglichkeit und Nachwuchswerbung aufgenötigt. Seither hatte man zwei Chorleiterwechsel zu verkraften, den jüngsten vor vier Monaten. Wenig Zeit für den neuen, noch jungen Dirigenten Benedikt Engel, um seine Jungs vorzubereiten. Und ein zahlenmäßig unausgewogenes Sängerfeld, weil der Zustrom junger Neueinsteiger trotz aller Bemühungen stockt.
Schwierige Voraussetzungen
In der Stadthalle waren diese Umstände schon an der Aufstellung ablesbar: Die Reihen der Männerstimmen, noch vor der Pandemie rekrutiert, waren satt gefüllt. Nach vorne hin, zu den jungen Sopransängern, wurde es dünner. Was ein klangliches Ungleichgewicht befürchten ließ.
Einen Moment lang im prachtstrotzenden Eingangschor, in dem alle Fraktionen mit Jubel am Anschlag gefordert sind, konnte man auch den Eindruck haben, dass genau das eintrat, dass die Soprane untergingen im Wogen der Bässe, Tenöre, Altstimmen. Aber nur einen Moment. Dann ging ein Ruck durch die Reihen der Sopranisten und – wupp! – waren sie da. Von da an leuchteten die Sopranlinien klar und felsenfest. Hut ab vor dem Mumm der zahlenmäßig kleinen Truppe. Aber auch vor der maßvollen Ausgewogenheit, mit der die Bässe, Tenöre, Altisten zu Werke gingen. Ohne das wäre es nicht gegangen.
Mit Pracht und Strahlkraft
So aber wird es eine Aufführung, die so rund und schlüssig über die Bühne geht, als habe es all die Erschwernisse nie gegeben. Benedikt Engel führt den Chor, die Württembergische Philharmonie und die Solisten mit ruhiger Hand, braucht keine Geste zu viel, gibt Sicherheit und bringt doch in die bewegten Sätzen eine federnde Beschwingtheit. Die großen Eingangs- und Schlusschöre haben Pracht und Strahlkraft. Das Trompetentrio aus WPR-Neuling Johann Prinz, Alfred Hepp und Roland Grau funkelt um die Wette. Die fugierten Choreinsätze sitzen. Die Holzbläser zaubern ein anrührendes Hirtenflair. In der ersten Kantate singen sogar die Allerjüngsten mit. Nur eine Handvoll, aber ein Zeichen der Hoffnung. Am Ende bekommen sie Sonderapplaus.

Auch die Soli sind eine runde Sache. Im Zentrum einmal mehr Capella-Eigengewächs Jan Jerlitschka in all den vielen Alt-Arien, die Bach immer dann auspackt, wenn es emotional zur Sache geht. Mit welcher Verbindung von innerer Wärme und anmutiger Linienführung er das gestaltet, ist ein Fest. Die Handlung vermittelt Jo Holzwarth als Evangelist mit hellem, leichtfüßigem Tenor, jedoch auch mit großer Prägnanz der Motivik – jedes Wort ist verständlich.
Auch Bassist David Pichlmaier hat diese Prägnanz der Motivik; er entfesselt zudem plastisch die innere Dramatik seiner Arien. Am Ende seines Herodes-Rezitativs gestaltet er den Herrscher als Karikatur des Bösen. Cathrin Lange ist mit ihrem filigranen Sopran auf der lyrischen Seite. Seidig bringt sie das Linienspiel ihrer Arien zum Glitzern.
Instrumentale Duettpartner
Berührend treten Solisten der Philharmonie als Duettpartner zu den Arien: Geiger Timo de Leo, Flötist Martin Kühn, das Oboenpaar mit Marius Schifferdecker und Yuko Schmidt. Ebenso bewegend die Auftritte zweier Chorsänger mit kleineren Sopran-Soli: Julian Lang tritt mit tragender, wohl ausbalancierter Stimme ins Wechselspiel mit Bassist Pichlmaier. Simon Engel gibt hell und klar die Engelsstimme im Zusammenspiel mit dem Evangelisten.
Die innere Mitte des Ganzen sind aber die Choräle. Die entfalten mal große Strahlkraft, dann wieder erklingen sie als zartes Gebet. Am Ende gibt's lange, verdiente Ovationen für alle Beteiligten. In dieser Form wird der Chor auch seine weiteren Herausforderungen packen. (GEA)