REUTLINGEN. Einatmen und ausatmen: ein ganz selbstverständlicher, kaum bewusst wahrgenommener Vorgang. Einer, der aber lebensnotwendig ist. Ihn leistet unsere Lunge. Genau mit diesem Organ setzt sich die Künstlerin Beatriz Schaaf-Giesser in ihrer aktuellen Ausstellung in der Reutlinger Produzentengalerie Pupille auseinander. Lungenflügel stehen bei ihren Rauminstallationen, Objekten und Radierungen im Mittelpunkt. Und so ungewöhnlich wie das Leitmotiv sind die Materialien, mit denen die studierte Textilkünstlerin arbeitet: Aus Taschentüchern, Hemden, Blusen und medizinischem Nahtmaterial formt sie ihre Werke. Eine Arbeit ist noch nicht abgeschlossen. Sie wird im Laufe der Ausstellung fertiggestellt, weshalb die Schau in der Pupille den Titel »Work in Progress« trägt.
»Die Lunge ist das Hauptorgan. Nur durch die Lunge leben wir. Und die Lunge schützt das Herz«, erklärt Beatriz Schaaf-Giesser. Dazu kommen biografische Bezüge: Engste Familienmitglieder und ein guter Freund starben an Lungenkrebs.
Ausstellungsinfo
Die Ausstellung »Work in Progress« mit Installationen von Beatriz Schaaf-Giesser ist in der Produzentengalerie Pupille, Peter-Rosegger-Straße 97, in Reutlingen bis 30. Juni zu sehen. Geöffnet ist Freitag 14 bis 17 Uhr und Sonntag 11 bis 17 Uhr. (GEA)
www.pupille-galerie.com
Die Künstlerin möchte jedoch die positiven Aspekte in den Mittelpunkt rücken. Mit dem Ein- und Ausatmen der Lunge verbindet die Künstlerin das Aufnehmen von äußeren Einflüssen und das Abgeben von Innerem nach außen. Diesen »luftigen Austausch« rückt sie in ihren Arbeiten in den Mittelpunkt, bei dem auch der Geruch eine Rolle spielt. »Mit der Atmung erkennen wir beispielsweise den Geruch eines Kuchens oder den Geruch eines Rauchers«, erklärt sie.
Medizinisches Nahtmaterial
Entscheidend für Schaaf-Giessers Arbeiten ist zudem das Material. Die in Montevideo in Uruguay geborene Künstlerin verwendet sogenanntes »Catgut«: Diese dünnen, bräunlichen Fäden, die aus Tierdärmen gewonnen wurden, stellte ihr Vater her. Verwendet wurde es, um Wunden zu vernähen. Damit strickt und vernäht die Künstlerin ihre Lungenflügel.
28 solcher Organe in unterschiedlichen Größen schweben bei der Installation »Aspiranten« im Raum, die durch dünne, wurzelähnliche Fadengebilde mit dem Boden Kontakt aufnehmen. Leicht und luftig wirkt das Werk. Zugleich wird durch die feine Gewebestruktur der Lungenflügel und die Abstände zwischen den einzelnen Formen Luftigkeit erzielt - und Luft spürbar. Ein weiterer Austausch gelingt, nämlich der zwischen Objekt und Betrachter: Geht man an den Lungenflügeln vorbei, geraten sie in Schwingung.
Unfertige menschliche Umrisse
Den Austausch mit dem Betrachter hat Schaaf-Giesser auch bei der Installation »Work in Progress« im Blick. An die Wand sind teils noch unfertige menschliche Figuren-Umrisse gezeichnet; davor hängen Lungenflügel aus Hemden und Blusen, mit Catgut vernäht, von der Decke. »Der Besucher kann wählen, mit welcher Figur er sich identifiziert. Er kann auch zwischen verschiedenen Positionen wählen, etwa ob er vor der Figur oder vor einem Lungenflügel stehen will«, so die Künstlerin.
Diese Arbeit wird während der Ausstellungsdauer vervollständigt. Zum einen werden die Figuren fertiggestellt. Zum anderen kommen weitere Stoff-Lungenflügel dazu. Dafür steht im Eingangsraum eine Kleiderstange gefüllt mit den entsprechenden Kleidungstücken bereit. Davor stehen ein Tisch und Stühle: Hier wird die Künstlerin arbeiten. »Der Besucher kann sehen, wie sich die Kleidung verwandelt.« Eingeladen sind zudem die Gäste, Hemden und Blusen zu spenden. Im Eingangsbereich finden sich auch Fotos von eben solchen: Sie wurden bereits von anderen Personen gespendet.
Radierserie »Lungenlandschaft«
"Lunge ist Leben": Diese Worte von Schaaf-Giesser, die in Reutlingen Textildesign studiert hat und sich seit den 1990er-Jahren der freien Kunst verschrieb, fallen oft. Als "Abdruck des Lebens" bezeichnet sie etwa ihre Radierserie »Lungenlandschaft«. Und um zu leben, brauchen Lebewesen Luft. Luft, die die Stoff-Lungen der Künstlerin in ihren Käfigen bekommen. Doch in der gleichnamigen Installation stehen die Käfige gleichwohl für ein Eingesperrt-Sein.
Aus dem Rahmen fällt die Objekt-Serie »Archiv der Erinnerung«: Es ist die einzige Arbeit, die während der Corona-Zeit entstand. Beatrize Schaaf-Giesser lud in der ersten Corona-Welle im Jahr 2020 Künstler und Künstlerinnen aus aller Welt ein, aus Taschentüchern kleine Kunstwerke zu formen. Rund 100 Objekte kamen zusammen, etwa 50 sind in der Schau zu sehen. Verschiedene Muster und Farben besitzen die Taschentücher, die auf einem Holzbrett befestigt sind. Vereinheitlicht sind sie durch die Größe. Ein kleines, faustgroßes Format, das sich auch als kranke Lunge lesen lässt. Damit stehen die Objekte auch für die bedrohliche Situation des Nach-Luft-Ringens. (GEA)