REUTLINGEN. Falls jemand besinnliche Weisen erwartet hatte im Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmonie am Montagabend in der Stadthalle, dann war er auf der falschen Spur. Bevor die Stille Nacht womöglich doch noch einkehrt bei Reutlingens Renommierorchester, ließ man erst noch einmal die Dämonen vom Stapel. Mittendrin ein Klanghexer namens Theo Plath, unter dessen Händen ein langes Holzrohr namens Fagott zum Zauberstab wird, oder zum Hochgeschwindigkeitsbesen für schwindelerregende Flüge durch die Tonskala.
Dabei fängt alles noch harmlos an mit sanft-melancholischem Meeresgewoge der Streicher und wehmütigen Möwenrufen von Flöte und Fagott im ersten von fünf »Études-tableaux« von Sergei Rachmaninow. Diese »Bilderstudien«, Original für Klavier, öffnen die Tür zu suggestiven Panoramen. In der Orchestrierung des italienischen Klangfarbenzauberers Ottorino Respighi (1879-1936) wird ein Strudel aus Kolorit und Atmosphäre daraus. Und schnell wird klar, dass wir hier nicht auf einem Weihnachtsmarkt sind, sondern in den Abgründen von Rachmaninows Innenwelt.
Im Rachen des Wolfs
Schon der »Jahrmarkt« als zweites Bild tobt grell und bläserscheppernd wie eine übersteigerte Parodie. Der »Trauermarsch« führt mit grollendem Tiefblech in eine schaurige Unterwelt. »Rotkäppchen und der Wolf« ist hier nicht nette Fabel, stattdessen reißt der ganze Klangapparat in aufschäumenden Crescendi förmlich den Rachen auf, um das Kind zu verschlingen, das in panischem Diskantgewusel das Weite sucht. Der abschließende »Marsch« lädt mit hoch näselnden gestopften Trompeten in die Geisterbahn.
Seine inneren Dämonen verarbeitet Rachmaninow hier zu pittoresken Schauerkulissen. Von Dirigent Andrea Sanguineti mit den Musikern in aller Kontrastschärfe in Szene gesetzt. Mal führt der Italiener, seit 2023 Chef am Essener Aalto-Theater, mit rudernden Armen. Dann leitet er wieder mit feinsten Bewegungen seiner bloßen Hände.
Auf dem Fagott-Hexenbesen
Im Concertino des schwedischen Beethoven-Zeitgenossen Bernhard Henrick Crusell sind wir den Fiebervisionen nur scheinbar entronnen. Erst lässt sich das in adretter Mozart-Manier an und wir dürfen an der Seite des Solisten Theo Plath mit einem Fagott träumen, das in sanglicher Tonfülle dahinschmilzt. Doch je länger das Stück geht, umso schwindelerregendere Ritte durch die Tonskala entlockt der 30-jährige Koblenzer seinem Instrument. Es ist, als habe er eine Art Büchse der Pandora geöffnet, und nun gibt es keine Schranken mehr im sich von Variation zu Variation steigernden Geschwindigkeitsrausch. Eben noch hat die vom Franzosen Boieldieu entliehene Opernmelodie ganz lässig getändelt, jetzt schießen wir, vom fagottistischen Warp-Antrieb beschleunigt, mit Überlichtgeschwindigkeit durch den Tonraum.
In seiner ersten Zugabe, einem Stück des Schweizer Avantgarde-Komponisten Heinz Holliger, treibt Plath dieses Spiel der Entgrenzung noch weiter. Nun mischen sich Mehrtöne in das Klangspektakel, akustische Phänomene, die auf keiner Klaviertaste zu finden sind und an fauchende Katzen oder bellende Hunde erinnern. Wozu der Solist hierhin und dorthin springt, scherzhaft grüßt oder jäh aufbraust, ein Darsteller in seinem eigenen Klangcinemaskop. Dafür ist die zweite Zugabe (»Vertigo« von Olaf Berg) ein emotional ausgreifender Dialog mit sich selbst, der lichte Momente und Grübeln streift, ehe er mit verhauchenden Klappengeräuschen endet.
Im Tal der Leidenschaft
In einem Opern-Intermezzo von Pietro Mascagni ist es nach der Pause natürlich die vergebliche Liebe, die einen weiteren Fiebertraum entzündet. Wir sind schließlich im »Verismo« gelandet, jener durch Puccini berühmt gewordenen Opernströmung um 1900, die nichts weniger als die Gefühle selbst zu heiß fließender Tonmagma aufschmilzt. Dirigent Sanguineti wirft sich mit der Philharmonie in aller Konsequenz in diese bläserbewehrte Leidenschaftsbrandung. Trotz Momenten voll zarter Oboenseligkeit (Dennis Jäckel) und Englischhornwärme (Yuko Schmidt) wirkt das Ganze doch etwas überladen.
Ganz anders die Sinfonie über ein Liebeslied von Nino Rota als Finale. Das Jugendwerk des legendären Filmkomponisten ist schlank, durchsichtig und von pulsierenden Rhythmen belebt. Die namengebende Liebesmelodie zieht sich durch alle Sätze, gerät dabei in die Turbulenzen des Lebens. Satz für Satz rutschen wir immer mehr in kinoartige Szenerien. Der zweite Satz entfaltet schlank dahineilenden Tanzgeist. Im Andante pochen schicksalhaft die Celli, ehe sie selbst wehmütig die Melodie ergreifen. Das fetzige Finale würde jede Kino-Verfolgungsjagd zieren. Ehe doch die Liebe siegt und das Stück in watteweichem Tubasamt verebbt. Die Dämonen sind verstummt. Die Stille Nacht kann kommen. (GEA)