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Kraftvolle gemeinsame Erzählung: Beethovens Neunte in der Tübinger Stiftskirche

Mit der Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie haben der Philharmonia Chor Reutlingen und das Tübinger Ärzteorchester in der Tübinger Stiftskirche das neue Jahr kraftvoll begrüßt.

Martin Künstner dirigierte beim Konzert in der Tübinger Stiftskirche. Als Solisten traten (von links) Alice Fuder, Mirjam Kapela
Martin Künstner dirigierte beim Konzert in der Tübinger Stiftskirche. Als Solisten traten (von links) Alice Fuder, Mirjam Kapelari, Philipp Nicklaus und Matthias Bein auf. Foto: Christoph B. Ströhle
Martin Künstner dirigierte beim Konzert in der Tübinger Stiftskirche. Als Solisten traten (von links) Alice Fuder, Mirjam Kapelari, Philipp Nicklaus und Matthias Bein auf.
Foto: Christoph B. Ströhle

TÜBINGEN. Der 1. Januar ist in der Tübinger Stiftskirche traditionell ein Termin, den der Philharmonia Chor Reutlingen mit großen Werken bespielt. 2023 mit Händels »Alexanderfest«, im vergangenen Jahr mit Mendelssohns Sinfonie »Lobgesang« und der Kantate »Wie der Hirsch schreit«. Nun, 2025, mit Beethovens 9. Sinfonie, bei der das Tübinger Ärzteorchester den Hauptpart übernahm. Beide Ensembles – den Reutlinger Chor und das Tübinger Orchester – sowie den ebenfalls beteiligten Konzertchor Reutlingen leitet Martin Küstner, der auch bei diesem Werk die Fäden wieder zusammenführte und mit den Solisten Alice Fuder (Sopran), Mirjam Kapelari (Alt), Philipp Nicklaus (Tenor) und Matthias Bein (Bass) eine packend-transparente Aufführung schuf, die das Publikum mit stehenden Ovationen beantwortete.

Über 50 Jahre ist es her, dass der Europarat das vokale Hauptthema des letzten Satzes (»Freude, schöner Götterfunken«) zu seiner Hymne erklärte, 40 Jahre, dass die Europäische Gemeinschaft es als offizielle Europahymne annahm. Sie versinnbildliche »die Werte, die alle teilen, sowie die Einheit in der Vielfalt«, hieß es zur Begründung. Das in der Staatsbibliothek zu Berlin befindliche Autograf wurde in das Weltdokumentenerbe der Unesco aufgenommen.

Spukhafte Fanfaren

Schön, dass die Aufführenden in Tübingen sich nicht auf den empathisch-prunkenden Freudengesang beschränkten, sondern das ganze Bild zeichneten, das Beethoven im Sinn hatte. Ein steiniger Weg voller Trugbilder, Rückschläge und Bedrohungen wurde dabei skizziert. Lyrische und martialische Themen traten miteinander in einen Wettstreit, ein Trauermarsch, kinderliedhafte Melodik und ein brutal stampfender Tanz nahmen Gestalt an, Hymnisch-Weihevolles, jähe Ausbrüche und spukhafte Fanfaren standen dicht beieinander. Als wollten uns diese Klänge zeigen, dass »die Werte, die alle teilen, sowie die Einheit in der Vielfalt«, die sie versinnbildlichen, eher immerwährender Anspruch als gelebte Wirklichkeit sind. Idealismus steckt bei Beethoven - und Schiller, von dem das verwendete Gedicht »An die Freude« stammt - schon auch drin. Aber einer, der um das Egoistische, Verstockte, Bremsende, Dissonante unter den Menschen weiß.

Wie das Solistenquartett Alice Fuder, Mirjam Kapelari, Philipp Nicklaus und Matthias Bein klanglich harmonierte - Einzelstimmen von beachtlicher Qualität -, kann man schon herausragend nennen. Auch der Chor ließ im Kantatenfinale keine Mühe erkennen, obwohl das kraftvolle Singen in hoher Lage ihn forderte. Die Frauenstimmen verbanden sangliche Energie mit Glanz, die Männerstimmen machten ihre Sache auch an den heiklen, exponierten Stellen gut.

Sprechende Pausen und Ruhepole

Die Ausgewogenheit des Klangs im Orchester und der von Martin Künstner herausgekitzelte Anspruch, zu einer gemeinsamen großen Erzählung zu finden, hatten schon in den ersten drei Sätzen beeindruckt. Was sprechende Pausen und Ruhepole mit einschloss. Ebenso effektvolle Steigerungen und bisweilen eine gleichsam rezitativische Artikulation der Instrumentalistinnen und Instrumentalisten. Die Synthese der Themen »Seid umschlungen« und »Freude, schöner Götterfunken« in einer Chorfuge nebst der darauffolgenden musiktheatralischen Schlussstretta mit Solistenkadenz geriet mitreißend und wurde vom Orchester klanggewaltig auskadenziert. (GEA)