REUTLINGEN. Island gilt in der Mythologie der Popmusik - nicht zuletzt dank Björk - als das Land der Elfen und Trolle. Zudem taucht die Natur in der Wahrnehmung isländischer Musik so stetig auf wie sonst nur im skandinavischen Jazz. Die mystische Ader, so könnte man meinen, ist den Menschen auf der nordischen Insel wohl mit in die Wiege gelegt.
Die aus Island stammenden Musiker der Gruppe Árstídir (auf Deutsch: Jahreszeiten) entsprechen dem Klischee des Landes auf eine geradezu idealtypische Weise. Ihre Songs sind allesamt mystisch, haben fast etwas Elfenhaftes. Bei ihrem Weihnachtskonzert mit dem Titel »Vetrarsól« vor rund 300 begeisterten Besuchern im Reutlinger franz.K präsentieren sich die bekennenden Melancholiker aber zugleich als starke Folk- und A-cappella-Sänger mit einem ausgeprägten Hang zur Selbstironie.
Teils üppige Arrangements
Gleich zum Auftakt verstehen es Gunnar Már Jakobsson (Baritongitarre), Daniel Auðunsson (Gitarre), Ragnar Ólafsson (Klavier) und das Streicherduo Jean-Samuel Bez (Violine) und Guillaume Lagravière (Cello), eindrucksvolle Momente zu schaffen, indem sie sich in der Bühnenmitte versammeln und ein traditionelles isländisches Weihnachtslied ganz ohne Instrumentenbegleitung singen. Auch in der Folge legt das Quintett viel Wert auf einen Sound, der zwischen klassischer Musik, Folk, Pop und weichen Gesangsharmonien oszilliert und zuweilen an die frühen Simon & Garfunkel erinnert. Die Arrangements sind teils üppig, bisweilen mit einem Hang zum Pathetischen, schöpfen aus einer Jahrtausende alten Kultur und verweben diese mit den Sounds unserer Zeit. Es sind vor allem die Stimmen der beiden Gitarristen und des zum Teil auf Deutsch moderierenden Pianisten, die das Konzert tragen.
Auf artistische Fingerpicking-Kunststücke, wie sie in der Folkszene sonst üblich sind, wartet man bei Gunnar Már Jakobsson und Daniel Auðunsson dagegen vergebens. Das haben sie auch nicht nötig, denn sie kreieren im Zusammenspiel mit ihren Kollegen Kompositionen voller Schönheit und Zerbrechlichkeit. Da wirkt nichts angestrengt oder aufgesetzt, musikalisch sucht das seit 2010 bestehende Ensemble stets den schnörkellosen Weg. Gerne greifen sie auch auf traditionelle Weihnachtslieder zurück, die ebenfalls eine mystische Intensität und ergreifende Dynamik entwickeln.
Isländisches Trinklied
Schöne Stimmen, sympathische Ausstrahlung, intensive und unverbrauchte Songs. Mal fangen Árstídir Klänge der Natur ein oder sie singen gemeinsam ein isländisches Trinklied, das ebenso gut zu Weihnachten passt wie die anderen Lieder. Überhaupt wirken die Isländer zuweilen wie gute Bekannte, die man nach dem Auftritt am liebsten noch bitten würde, bei uns zu Hause ein paar weitere Songs zu singen. Denn bei ihnen wird Zuhören stets zu einem intensiven Akt. Titel wie »Ró«, »Someone Who Cares« oder »Pendulum Of Life« sind vollgepackt mit Melancholie, Empathie und Verletzlichkeit. Selten schafft es eine Band, diese speziellen Gefühle zu vermitteln, ohne auf Rock'n'Roll-Mechanismen zurückzugreifen.
Bis zum Schluss, bis nach der zweiten Zugabe wickeln Árstídir ihr Publikum scheinbar mit links um den kleinen Finger. Sie benötigen dazu weder Glamour noch Show-Effekte und noch weniger eine große Lichtshow. Ihre natürliche Ausstrahlung und die mal folkig-mystischen, mal weihnachtlich angehauchten Songs erledigen das von ganz alleine. (GEA)