RIEHEN. Reisen – ein weites Feld, gerade auch im Leben von Künstlern. In der Renaissance musste ein Künstler förmlich über die Alpen nach Rom reisen, wenn er etwas gelten wollte. Die Ewige Stadt, seinerzeit der Nabel der Kunstwelt, lieferte mit ihren zahlreichen antiken Ruinen und Relikten Anschauungsmaterial für die Wiedergeburt (man könnte auch sagen: die Wiederbelebung) der Antike in der Kunst der frühen Neuzeit; nichts Anderes besagt ja der Kunst- und Epochenbegriff Renaissance. Auch am Beginn der Moderne geht Reisen bisweilen mit der Entdeckung und Erschließung künstlerischen Neulands einher. Man denke an Klees Reise nach Tunis mit den Freunden August Macke und Louis Moilliet. Auf ihr erst fand er zur Farbe.
Ausstellungsinfo
Die Ausstellung »Matisse: Einladung zur Reise« ist bis 26. Januar 2025 in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel (Baselstraße 77) zu sehen, täglich von 10 bis 18 Uhr, Mittwoch bis 20 Uhr, Freitag bis 21 Uhr. (GEA)
Auch im Leben von Henri Matisse (1869-1954) führten Reisen zu grundlegenden Veränderungen. Das Erlebnis der mediterranen Welt etwa macht im Leben wie in der Kunst des im Norden Frankreichs geborenen und aufgewachsenen Malers und Bildhauers, der als junger Mann in Paris lebte, Epoche. Von Nizza nimmt er die Erinnerung mit: »Als mir bewusst wurde, dass ich jeden Morgen dieses Licht wiedersehen würde, konnte ich mein Glück nicht fassen.« Bereits während seines ersten Aufenthalts in dem französischen Hafenstädtchen Collioure im Jahr 1905 erfährt seine Malerei starke, um nicht zu sagen grundstürzende neue Impulse. Die vom Gegenstand emanzipierte Farbe gewinnt in seinen Bildern Eigenleben und Eigengewicht als unmittelbarer Ausdruck von Gefühl und Emotion. Es ist der Beginn einer Revolution in der französischen Kunst, die dann bald unter dem Begriff Fauvismus – für: »die Wilden« – firmierte.
Moskau, New York, Tahiti
Die Ausstellung »Matisse. Einladung zur Reise« beleuchtet diese Zusammenhänge und setzt die künstlerische Entwicklung in seinem Werk in einen Kontext zu den zahlreichen Reisen, die der Künstler im Laufe seines Lebens unternahm. Sie führten ihn beispielsweise nach Moskau, New York oder auch Tahiti. Die erste große Matisse-Retrospektive im deutschsprachigen Raum seit 20 Jahren versammelt mehr als 70 Werke aus namhaften europäischen und amerikanischen Museen sowie Privatsammlungen. Natürlich sind auch die beiden Gemälde sowie sechs Scherenschnitte und eine Bronzeskulptur aus der Sammlung der Fondation zu sehen.
Bis zur bahnbrechenden Weiterentwicklung seiner Malerei in Collioure 1905 hatte Matisse, der Schüler Gustave Moreaus, im Stil des Impressionismus und des Pointillismus gemalt. Beispiele in Riehen wären »La desserte«, entstanden 1896/97, oder »Luxe, calme et volupté« von 1904. Der Bildtitel spielt unmittelbar auf ein Gedicht von Charles Baudelaire an, dessen Überschrift »Einladung zur Reise« auch der Schau den Titel gab. Das Gedicht träumt von der Liebe in einem Land, in dem »Schönheit und Genuss / Ordnung, Ruhe, Überfluss« herrscht. Reisen als Suche nach dem Lebensglück, das sich dann in der Kunst materialisiert.
Befreite Farbigkeit
Seit Collioure entwickelt Matisse einen flächigen Stil, dessen hervorstechende Merkmale eine befreite Farbigkeit und die Bedeutung der Linie ist, die von realistischer Darstellung markant abweicht. Etwa auch in der Plastik: Die Bronze »Die Schlangenförmige« (»La serpentine«, 1909) aus dem Pariser Musée d’Orsay zeigt den tatsächlich schlangenartig gewundenen Leib eines weiblichen Wesens.
Auf einer Reise nach Italien erfährt Matisse den Einfluss Giottos. In Nordafrika lässt er sich vom »schmelzenden Licht« und der islamischen Ornamentik inspirieren. Letztere kommt nicht zuletzt in den Scherenschnitten des Spätwerks zum Tragen, das einen Höhepunkt seines Werks darstellt.
Monumentale Scherenschnitte
Die chronologisch aufgebaute Ausstellung bietet einen Querschnitt durch das gesamte Werk und erfreut mit Meisterwerken wie »Stuhl mit Pfirsichen« von 1918, »Interieur mit Goldfischglas« aus dem Centre Pompidou oder »Odaliske mit roter Hose« (1925). Werke wie »Der große liegende Akt« von 1935, mehr noch die monumentalen Scherenschnitte »Akanthus« und »Blauer Akt, der Frosch« aus den Fünfzigerjahren weisen bereits im Format auf die Riesenleinwände und die Reduktion in Farbe und Form der Abstrakten Expressionisten voraus. (GEA)