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»Flüchtlinge sind mehr als Zahlen«: Imad Al Suliman liest in Reutlingen

Mehrmals auf seiner Flucht aus Syrien war Imad Al Suliman so gut wie tot. Wie er trotzdem überlebte und welch unrühmliche Rolle die Küstenwache dabei spielte, erzählt er bei seiner Lesung aus seinem Buch »Das Jasmin-Inferno« in Reutlingen.

Der Autor und Politikwissenschaftler Imad Al Suliman im Videogespräch über sein Buch »Das Jasmin-Inferno« über seine Fluchtgesch
Der Autor und Politikwissenschaftler Imad Al Suliman im Videogespräch über sein Buch »Das Jasmin-Inferno« über seine Fluchtgeschichte. Foto: Armin Knauer
Der Autor und Politikwissenschaftler Imad Al Suliman im Videogespräch über sein Buch »Das Jasmin-Inferno« über seine Fluchtgeschichte.
Foto: Armin Knauer

REUTLINGEN. Es ist das Jahr 2015 und Imad Al Suliman muss weg aus Syrien. Als Literaturstudent mit eigener Meinung droht ihm das Foltergefängnis, Bomben fallen, ganze Städte liegen in Schutt und Asche. Überleben heißt: raus hier. Doch die Flucht nach Europa erweist sich als eine in den fast sicheren Tod. Die türkischen Schleuser schicken das mit Menschen überladen Schlauchboot bewusst in die falsche Richtung. Die griechische Küstenwache überlässt die Flüchtenden, darunter schwangere Frauen und Kinder, erst dem Meer, und als sie sich mit letzter Kraft auf einen Felsen an der Insel Samos retten, fast dem Verdursten. Zuletzt hat Al Suliman den Erstickungstod in einem Lieferwagen vor Augen, der ihn und andere Flüchtlinge nach Deutschland bringen soll. Eine deutsche Grenzschutzbeamtin öffnet die Lkw-Tür und spricht die erlösenden Worte: »Keine Angst, Sie sind jetzt in Sicherheit.«

Veranstaltungsinfo

Imad Al Suliman liest am Freitag, 8. November, um 19 Uhr im Haus der VHS in Reutlingen aus seinem Buch »Das Jasmin-Inferno« über seine Fluchtgeschichte aus Syrien. Der Eintritt ist frei. (GEA)
https://www.seebruecke.org/mach-mit/deutschland/baden-wuerttemberg/reutlingen

Seine traumatische Odyssee hat Imad Al Suliman im Tatsachenroman »Das Jasmin-Inferno« niedergeschrieben, aus dem er am 8. November in der Reutlinger Volkshochschule liest. Er will damit auch korrigieren, dass Geflüchtete in Deutschland oft reflexartig als potenzielle Gewalttäter wahrgenommen werden. »Es leben über eine Million Syrer in Deutschland. Es darf nicht sein, dass einzelne schreckliche Gewaltakte auf uns alle übertragen werden«, sagt Al Suliman. Und betont: »Wir wollen hier konstruktiv etwas aufbauen. Allein neun Personen aus meiner Verwandtschaft sind in Deutschland als Ärzte aktiv.«

Einladung durch Seebrücke Reutlingen

Eingeladen zu der Lesung hat die Reutlinger Lokalgruppe der Initiative Seebrücke, die sich für sichere Fluchtwege einsetzt, für eine menschwürdige Behandlung der Geflüchteten und für ihre Integration. Jane Krämer von der Seebrücke Reutlingen findet es erschreckend, wie auch in Deutschland das Thema zunehmend unter dem Gesichtspunkt der Abschreckung diskutiert wird: »Wir sehen, dass Politik auf Kosten der Geflüchteten gemacht wird.« Der Plan der Regierung von Giorgia Meloni in Italien, Geflüchtete in Drittländern wie Albanien zu internieren, werde in vielen anderen europäischen Ländern mit Interesse als »Modell« verfolgt.

Al Suliman wiederum beobachtet, dass es in Deutschland Flüchtlinge erster und zweiter Klasse gibt. Der Willkommenskultur gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine stehe eine ganz andere Behandlung von Flüchtlingen aus anderen Staaten gegenüber.

Menschen statt Nummern

Für Al Suliman ist das zentrale Anliegen, den Menschen wieder in den Blickpunkt zu rücken. »Wir Geflüchteten sind keine bloßen Zahlen. Wir haben Gefühle, wir möchten als Wesen mit Seele gesehen werden. Es gibt keine richtigen und falschen Flüchtlinge, es gibt nur Menschen, und von denen ist jeder wertvoll, und jeder einzelne, der auf seiner Flucht umkommt, ist einer zu viel.«

2015 war Deutschland das Land seiner Rettung, nach entwürdigenden Erfahrungen in Flüchtlingslagern in Griechenland und Ungarn. Heute kann er das hoffnungsfrohe »Keine Angst, Sie sind jetzt in Sicherheit!« auch in Deutschland nicht mehr uneingeschränkt unterschreiben. In Berlin, wo er seinen Master in Politikwissenschaft macht, empfindet er die Stimmung als »beängstigend«. Einerseits sei er dankbar, dass er hier an freien Wahlen teilnehmen darf, seit er einen deutschen Pass hat. Andererseits beobachtet er, wie »Ausländer raus!«-Parolen selbst jenseits des rechtsradikalen Milieus um sich greifen.

Perspektivwechsel gefordert

»Wir brauchen einen Perspektivwechsel«, appelliert Jane Krämer von der Seebrücke. Geflüchtete sollten nicht pauschal als Belastung gesehen werden, sondern als Menschen, die einen Namen, eine Persönlichkeit, eine Würde haben. Und die mit ihren Fähigkeiten etwas beitragen können zur hiesigen Gesellschaft.

»Das Narrativ ist das Problem«, sagt Al Suliman. Im Moment werde es dominiert von den Attentätern von Mannheim und Solingen und von Politikern, die damit Ängste schüren, die Grenzen Europas würden von gewaltbereiten Ausländern überrannt. »Unsere Stimme, die Stimme von uns Menschen, die versuchen, hier etwas aufzubauen, wird nicht gehört«, klagt Al Suliman. Mit seiner Lesereise will er dazu beitragen, dass sich das ändert.

Rückkehr ins »Schwabenländle«

Dass er dafür »ins Schwabenländle« zurückkehren wird, freut ihn; die ersten zwei Jahre nach seiner Flucht hat er hier verbracht. »Ich fühle mich sehr wohl dort.« Die Politikwissenschaft sieht er auch nach seinem Masterabschluss als sein Feld an. Und das Schreiben. Seinem viel beachteten Tatsachenroman will er weitere Bände folgen lassen. Worum es konkret darin gehen wird, will er noch nicht verraten. Nur eins: Das Schreiben sieht er als seine erste Priorität an - und die politische Literatur dabei als sein Feld. (GEA)